Mechthild Merfeld

Mein Name ist Mecht­hild Merfeld. Ich wurde 1941 gebo­ren und stamme aus Kassel. Ab 1972 war ich beim Arbeits­kreis deut­scher Bildungs­stät­ten, einem Bundes­ver­band außer­schu­li­scher poli­ti­scher Bildung in Bonn beschäf­tigt, erst als Refe­ren­tin, ab 1974 als Geschäfts­füh­re­rin. 2001 bin ich nach Berlin gekom­men. Wir waren durch den Vorstand unse­res Verbands vor die Alter­na­tive gestellt worden, nach Berlin zu gehen oder unsere Arbeits­stelle zu verlie­ren. Und das wollte ich nicht.

Berlin war natür­lich attrak­tiv, aber ich habe mich in Bonn auch sehr wohl gefühlt. Dort hatte ich eine wunder­schöne Wohnung, die ich ungern aufge­ge­ben habe. Sie hatte eine sehr große Terrasse mit viel Platz für Pflan­zen und für Freunde. Man hatte von dort einen tollen Blick auf einen großen Basalt­stein­bruch und der Rhein war in die andere Rich­tung nur fünf Minu­ten entfernt.

In Berlin kam ich zuerst bei einer ehema­li­gen Klas­sen­ka­me­ra­din in Char­lot­ten­burg als Unter­mie­te­rin unter und nach drei Mona­ten fand ich die Wohnung in der Jagow­straße 30.
In Berlin hatte ich schon ein paar Bekannte, weil unser Verband hier auch mehrere Mitglieds­ein­rich­tun­gen hat und ich mit eini­gen Leitern und pädago­gi­schen Mitar­bei­tern befreun­det war.

Warum bin ich nach Moabit gekom­men? Ich habe in Bonn-Ober­kas­sel in einem evan­ge­li­schen Kirchen­chor gesun­gen. Einer unse­rer Bässe war schon vor mir aus beruf­li­chen Grün­den nach Berlin gezo­gen und erzählte mir mit Begeis­te­rung von der Kanto­rei der Erlö­ser­kir­che und ihrer Kanto­rin. Deswe­gen bin ich schon vor der Sommer­pause zu einer Probe gegan­gen und mehr als 21 Jahre dabei­ge­blie­ben. Als ich dann in einer Zeitungs­an­zeige die Wohnung in der Jagow­straße entdeckte, habe ich mich sehr darum bemüht, sie zu bekom­men, was glück­li­cher­weise geklappt hat. Durch den Chor habe ich leicht Wurzeln in Moabit geschla­gen. Ich habe viele nette Leute mit ähnli­chen Inter­es­sen kennen­ge­lernt, die mir schon beim Einrich­ten meiner Wohnung gehol­fen haben und mit denen ich bis heute gut befreun­det bin. Das war ein ganz wich­ti­ger Grund, mich hier schnell heimisch zu fühlen.
Es hat keine Rolle gespielt, dass ich aus der Kirche ausge­tre­ten war. Und es ist mir nie schwer gefal­len, die wunder­ba­ren geist­li­chen Kanta­ten, Messen, Passio­nen und Kirchen­lie­der zu singen. Das aller­erste Stück, das ich mit aufge­führt habe, war das Weih­nachts­ora­to­rium von Bach. Das war am 9. Dezem­ber 2001, an meinem 60. Geburts­tag.

2007 bin ich in Rente gegan­gen. Ich habe meinen Job zwar gerne gemacht, aber er war auch sehr anstren­gend. Davon habe ich mich dann erst einmal erholt.

2010 habe ich mich dann auf eine neue Aufgabe einge­las­sen. Ich absol­vierte
bei der Evan­ge­li­schen Landes­kir­che eine Ausbil­dung zur ehren­amt­li­chen Chor­lei­te­rin und über­nahm die Aufgabe in der Luther­ge­meinde in Pankow, den Kirchen­chor wieder­zu­be­le­ben bzw. neu aufzu­bauen. Auch die Chor­lei­tung habe ich, beein­träch­tigt durch die verschie­de­nen Lock­downs und Sing­ver­bote wegen Corona und meinen gesund­heit­li­chen Proble­men, fast 10 Jahre sehr gerne aufrecht­erhal­ten.

Die nächste Aufgabe, die ich gefun­den habe, war die Ausein­an­der­set­zung mit der jüdi­schen Vergan­gen­heit Berlins. Ich wohnte ja sehr dicht an der ehema­li­gen Synagoge und dem Gedenk­ort in der Levet­zow­straße, was mich sehr beschäf­tigt hat. Dann bin ich 2011 zufäl­lig auf die im ehema­li­gen Hertie an der Fens­ter­scheibe ange­brach­ten Listen mit den Namen und Adres­sen der aus Moabit depor­tier­ten Jüdin­nen und Juden aufmerk­sam gewor­den. Da habe ich gele­sen, dass in der Jagow­straße 30 eine Bronis­lawa Hambur­ger gewohnt habe. Das hat mich so elek­tri­siert, dass ich mich gleich an die Mail­adresse der Initia­to­ren gewandt und gefragt habe, ob ich mich an ihren Aktio­nen betei­li­gen könnte. Darauf­hin habe ich Plakate an Geschäfte, Restau­rants und Arzt­pra­xen verteilt, die bereit waren, sie auszu­hän­gen. Seit­dem habe ich mich in dieser Initia­tive und später in dem daraus entstan­de­nen Verein enga­giert und bin bis zum Schluss dabei geblie­ben.

Im Landes­ar­chiv habe ich dann fest­ge­stellt, dass es in Wilmers­dorf auch eine Jagow­straße gab und Frau Hambur­ger nicht in Moabit, sondern in einer großen Villa im Grune­wald gelebt hat. Trotz­dem hat mich ihre Geschichte sehr beschäf­tigt, weil ich die Entschä­di­gungs­ak­ten der Fami­lie gele­sen habe. Die kalt­schnäu­zi­gen Versu­che, alle geltend gemach­ten Ansprü­che abzu­weh­ren, die Verzö­ge­rung der Abläufe über viele Jahre, bis es kaum noch Fami­li­en­an­ge­hö­rige gab und die Schä­big­keit der Entschä­di­gungs­summe haben mich ange­wi­dert und lange weiter beschäf­tigt.

In der Initia­tive und im Verein Sie waren Nach­barn haben wir unter­schied­li­che öffent­lich­keits­wirk­same Dinge entwi­ckelt, z.B. Akti­ons­wo­chen in Zusam­men­ar­beit mit vielen Künst­lern, Thea­ter­stü­cke, Lesun­gen, Musik­ver­an­stal­tun­gen, eine Kunst­aus­stel­lung, poli­ti­sche Diskus­sio­nen, Film­vor­füh­run­gen, jähr­li­che Ausstel­lun­gen im Schau­kas­ten vor dem Rathaus, einen Audio­walk und mehr. Ich habe versucht, immer dabei zu sein und mich zu enga­gie­ren. In der Gruppe habe ich Freun­din­nen und Freunde gefun­den und war sehr gerne dabei.

In der Zeit­schrift “aktu­ell” des Senats hatte ich 2013 eine Annonce aufge­ge­ben, dass wir Nach­fah­ren der aus Moabit entkom­me­nen oder ermor­de­ten Juden suchen. Darauf habe ich vier Antwor­ten bekom­men. Zwei aus England, eine aus Kali­for­nien und eine aus Austra­lien. Der Kontakt nach

Amerika war der nach­hal­tigste. Der Herr, der mir von dort antwor­tete, hatte als klei­ner Junge in der Jagow­straße gewohnt, dann in der Dort­mun­der Straße und ist schließ­lich mit seinen Eltern und Geschwis­tern nach Haifa entkom­men. Er schrieb mir, dass sein Neffe die Geschichte seiner Fami­lie erforscht habe. So habe ich ange­fan­gen, mit Benja­min Gidron zu korre­spon­die­ren. Er ist zu einem Freund unse­rer Gruppe gewor­den, und seine Fami­lie auch. Die Verbin­dung hat dazu geführt, dass wir neun Stol­per­stein­ver­le­gun­gen zusam­men vorbe­rei­tet und reali­siert haben für 28 Ange­hö­rige seiner Fami­lie, von denen nur wenige haben flie­hen können. Die meis­ten von ihnen wurden depor­tiert und ermor­det, unter ihnen viele Kinder.
Die erste Stol­per­stein­ver­le­gung für die Fami­lie seines Groß­va­ters, die schon 1933 nach Paläs­tina entkom­men konnte, fand nach langer Warte­zeit 2016 statt. An ihr nahmen 20 Fami­li­en­an­ge­hö­rige aus Israel und Amerika in der Dort­mun­der Straße 3 teil. Die jüngste Toch­ter Inge, bei der Flucht 4 Jahre alt, war aus Haifa gekom­men. In ihrer kurzen Anspra­che auf Deutsch an die etwa 80 Teil­neh­men­den sagte sie, dass sie sich noch sehr genau an dieses Haus erin­nere, aus dem die Fami­lie im Schutz der Dunkel­heit geflo­hen ist.

Als schö­nen Abschluss meines Lebens in Berlin erhielt ich am 6. März 2022 den Klara-Franke-Preis für bürger­schaft­li­ches Enga­ge­ment in Moabit verlie­hen, zusam­men mit Irene Stephani, mit der ich auch jahre­lang in der Kanto­rei der Erlö­ser­kir­che gesun­gen habe.

Jetzt im Sommer 2022 muss ich Berlin aus gesund­heit­li­chen Grün­den verlas­sen. Ich komme in meiner Wohnung nicht mehr alleine zurecht und habe beschlos­sen, in eine Senio­ren­ein­rich­tung in Kassel zu ziehen. Dort wohnt meine Toch­ter und ich möchte gerne in ihrer Nähe sein.

Ich werde Berlin, Moabit, meine Chöre, die „Nach­barn“ und alle Freun­din­nen und Freunde sehr vermis­sen.

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