Silvester im Taxi

Die Silves­ter­schich­ten sind in den meis­ten Taxi­be­trie­ben die belieb­tes­ten. Wirk­lich verste­hen kann ich das nicht, jeden­falls bis Mitter­nacht ist meis­tens nicht viel los. Beim letz­ten Mal hatte ich um null Uhr gerade 40 Euro einge­nom­men, ein Desas­ter. Aber so ab 0.15 Uhr gehts rich­tig los, dann kommt der Wagen nicht mehr zum Stehen und die besten Stun­den des Jahres begin­nen. Was man nicht machen sollte ist, genau um Mitter­nacht unter­wegs zu sein. Feiernde sind unbe­re­chen­bar! Ich hatte schon welche im Auto, die während der Fahrt das Fens­ter runter­kur­bel­ten und aus dem Wagen Böller abge­schos­sen haben. Gefähr­lich sind aber vor allem dieje­ni­gen, die aufgrund von Alko­hol und Über­mut keine Gren­zen mehr kennen und sich einen Spaß daraus machen, auf fahrende Autos zu schie­ßen. Mehr­mals flogen mir Rake­ten auf die Wind­schutz­scheibe oder Böller explo­dier­ten direkt neben mir. Auch die, die ihre Rake­ten­ab­schuss­ba­sen in Form von leeren Wein­fla­schen mitten auf die Straße stel­len, verflucht man in diesem Moment.
Vor drei Jahren, als wieder über­haupt nichts lief, wollte ich gegen 23.00 Uhr Pause machen, um dann recht­zei­tig fit zu sein für die Stoß­zeit. Auf meinem Weg in den Wedding wurde ich in der Orani­en­bur­ger Straße in Mitte gewun­ken, jemand musste ins Kran­ken­haus Neukölln. Da ich zu Mitter­nacht genau in der ande­ren Rich­tung verab­re­det war, musste ich mich beei­len. Also ging es los, schnel­len Reifens nach Süden. Am Hermann­platz war alles voller Poli­zei, ich konnte mich über kleine Stra­ßen vorbei­schmug­geln und gab dann wieder Gas. Endlich am Kran­ken­haus ange­kom­men muss­ten wir noch warten, weil der Fahr­gast gar kein Geld hatte und jemand von innen ihm erst was brin­gen musste.
Danach: Fackel aus und mit 70 km/h durch Neukölln, Kreuz­berg und Mitte zum Nettel­beck­platz im Wedding. Meine Freunde haben nicht mehr damit gerech­net, dass ich über­haupt noch ankomme, aber genau 2 Minu­ten vor dem Prost Neujahr war ich da. Das Taxi stand natür­lich in der zwei­ten Spur, zum Park­platz suchen war keine Zeit mehr gewe­sen.

Nach mehre­ren Silves­ter­schich­ten wusste ich, dass man gerade dann oft unan­ge­nehme Kunden hat. Laut, eilig, eklig und nicht immer mehr ganz sauber. Deshalb verfiel ich auf eine List. Ich wusste ja, dass sich Leute die ein Taxi brau­chen oft an den Halte­plät­zen sammeln, so wie an einer Bushal­te­stelle. Dabei fährt nach Mitter­nacht kaum ein Kuscher die Taxi­hal­ten an. Und wenn doch, dann wird er gleich bestürmt. Sogar Schlä­ge­reien habe ich schon erlebt, weil manche Leute nach 20 Minu­ten Warte­zeit jede Rück­sicht verges­sen. Vor allem alte und schwa­che Menschen haben bei sowas keine Chance. Also habe ich mein Taxi­schild einfach ausge­schal­tet, fuhr zur nächs­ten Halte und stoppte kurz dahin­ter. Natür­lich kamen gleich einige ange­rannt, aber ich bin ausge­stie­gen und winkte ab. Dann hab ich geschaut, wer alles so da steht und habe gezielt alte Leute ange­spro­chen. Die waren auch jedes­mal sehr erfreut und glück­lich, dass sie endlich wegkom­men. So bekam ich immer Fahr­gäste, die dank­bar waren, sich zu beneh­men wuss­ten und meist auch noch ein gutes Trink­geld gege­ben haben. Und das Auto blieb sauber.

Anders sah es aus, als ich mitten im Silves­ter­tru­bel einen Fahr­gast in Moabit abge­setzt habe. Im selben Moment kam ein Mann ange­rannt, brüllte was von Kran­ken­haus und zeigte in eine Hofein­fahrt, in der eine Frau stand. Ich fuhr also hin, die Frau war hoch­schwan­ger und offen­bar kurz davor, ihr Kind zu bekom­men. Die beiden Türken konn­ten nicht rich­tig Deutsch, aber ich verstand “Klinik” und “Puls­straße”. Damals war dort in Char­lot­ten­burg noch die Frau­en­kli­nik. Die Frau stieg vorn ein, den Sitz ganz nach hinten gescho­ben, so dass sie genug Platz hatte, der Mann saß hinten in der Mitte. Beide waren extrem aufge­regt, der Mann redete die ganze Zeit auf sie ein, während sie immer lauter stöhnte und ihn abzu­weh­ren versuchte. Ich befürch­tete, dass sie ihr Kind im Taxi bekommt und gab rich­tig Gas. Gleich­zei­tig sprach ich über Funk die Zentrale an und sagte, dass sie in der Klinik anru­fen sollen, damit die dort schon auf die Dame warten.
Plötz­lich schrie die Frau auf, der Mann auch, er konnte sich auch nicht mehr beru­hi­gen. Mitt­ler­weile war ich dazu über­ge­gan­gen, auch bei rotem Ampel­licht weiter­zu­fah­ren, natür­lich sehr vorsich­tig, aber ich wollte keine Zeit mehr verlie­ren. An der Schloss­brü­cke muss­ten wir stop­pen, weil vor uns mehrere Autos bei Rot an der Kreu­zung warte­ten. Ich nutzte die Zeit, stieg aus, öffnete die Hinter­tür und sagte dem Mann nur: “Raus!” Perplex stieg er aus, ich schickte ihn auf den Bürger­steig und als es weiter­ging, fuhr ich wieder los — ohne ihn. Die Frau röchelte ein “danke”, denn anstatt sie zu beru­hi­gen, hatte ihr Mann sie erst recht verrückt gemacht.
An der Klinik ange­kom­men stan­den auch schon mehrere Pfle­ger und Kran­ken­schwes­tern am Eingang und nahmen die Frau in Empfang. Sie legten sie auf eine Trage und scho­ben sie hinein. Einer der Pfle­ger bezahlte mir sogar die Fahrt. Ich schrieb mir genau die Uhrzeit und den Namen des Pfle­gers auf, denn falls ich wegen des Rotlichts Ärger krie­gen sollte, brauchte ich einen Zeugen, der den Notfall bestä­ti­gen konnte.
Genervt aber glück­lich dass wir noch recht­zei­tig ange­kom­men sind, stieg ich ins Auto, und dort sah ich die Besche­rung: Die Frucht­blase der Frau war bereits geplatzt, entspre­chend sah der Sitz und der Boden aus. Also musste ich erst­mal eine geöff­nete Tank­stelle suchen, um das alles wieder sauber­zu­ma­chen. Aber ich habe mich nicht geär­gert, denn trotz des Stres­ses wusste ich, dass es für eine gute Sache war. Immer­hin wurde jemand gebo­ren, der mir später hoffent­lich die Rente sichert.

Silves­ter­schich­ten sind manch­mal wirk­lich extrem. Viele Leute sind völlig aufge­dreht, das ist klar. Einige sind aber auch depres­siv, weinen teil­weise, während sie einem das Leid klagen. Andere sind aggres­siv, das kommt vor allem bei Ehepaa­ren oft vor, die ich nach Hause fahre. Nur eines sind Silves­ter­schich­ten nach Mitter­nacht nie: Lang­wei­lig.

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1 Kommentar

  1. Das kann ich mit gut vorstel­len, dass in der Silves­ter­nacht viele Fahr­ten für Taxis anste­hen. Aber ich sage mal lieber so, als wenn die Leute noch selber fahren würden und das unter Alko­hol. Und das mit der Fahrt in das Kran­ken­haus, mit einer werden­den Mutter, war sicher­lich schon ziem­lich aufre­gend. Viel­leicht hat es ja nur noch ein paar Minu­ten gedau­ert, bis das Baby zur Welt kam, noch­mal rich­tig Glück gehabt. Eine Geburt in einem Taxi ist ja wohl für alle Betei­lig­ten nicht gerade ange­nehm.

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