Abends am Europa-Center

Die Taxi­halte am Europa-Center liegt eigent­lich sehr ungüns­tig, nämlich in der Mitte der Tauent­zi­en­straße. Wenn Fahr­gäste zu einem Taxi wollen, müssen sie erst­mal die Straße über­que­ren. Das ist nichts für lang­same Beine. Also sieht man oft Fahr­gäste, die sich lieber am Fahr­bahn­rand ein fahren­des Taxi winken. Trotz­dem kann es sich lohnen, wenn man sich hinten an die Schlange der Kolle­gen anstellt. Nicht nur wegen der Fahr­gäste, die doch noch ihren Weg durch die Autos finden, vor allem, wenn sich der Verkehr mal wieder staut (nicht immer ist ein Stau des Taxi­fah­rers Feind!). Auch die Funk­ge­sell­schaf­ten spre­chen den Platz an und schi­cken uns zu den Bars und Hotels der nahen Umge­bung.
Bis es soweit ist, beob­ach­tet man das Gewühl um sich herum. Gerade der Blick in Rich­tung Breit­scheid­platz ist nie lang­wei­lig. Künst­ler, Dealer, Poli­zis­ten, Buden und Bühnen, und zwischen allem die Massen von Touris­ten. Südlän­di­sche Jungs, gerade noch so in der Puber­tät, strei­fen engho­sig und breit­bei­nig in klei­nen Grup­pen über den Platz. Neben dem Juwe­lier­ge­schäft sitzt ein Mann und zeich­net Porträts. Er hat meis­tens Kund­schaft, seine Bilder sind beliebt.
Lang­sam rückt die Taxi­schlange vor, mein Blick fällt auf das große Bayer-Zeichen, das sich seit der Über­nahme von Sche­ring auf dem Zoo-Hoch­haus dreht, als Gegen­stück zum Merce­des-Stern auf dem Europa-Center. Ein Motor­rad rast laut von hinten heran, die Busspur ermög­licht ihm freie Fahrt. Doch dann eine Voll­brem­sung, er hat die Poli­zis­ten am Fahr­bahn­rand entdeckt.
Im Funk werden stän­dig Halte­plätze rund um das Europa-Center ausge­ru­fen — Kranz­ler, Nürn­ber­ger Straße, Hotel Palace — nur ich bekomme keinen Auftrag. Gedan­ken­ver­lo­ren schaue ich mir die schie­ben­den Massen auf dem Bürger­steig an, manch geschnie­gel­ter Burschi macht den Eindruck, als wäre er zum ersten Mal in einer Stadt, das Stau­nen ist ihm ins Gesicht geschrie­ben. Ande­ren sieht man an, dass sie nie etwas in den teuren, hellen Läden kaufen werden, trotz­dem schlen­dern sie den Tauent­zien entlang, arm neben reich, das ist Demo­kra­tie, jeden­falls solange sie die Geschäfte nicht betre­ten.
Vom Taxi­stand aus ist es nicht möglich, die ganze Leucht­re­klame zu zählen, sie gehen in die Hunderte. Mitt­ler­weile stehe ich an der Pole Posi­tion. Eine dicke Frau mit ihrer noch dicke­ren Toch­ter wankt auf mich zu, an jeder Hand haben sie mindes­tens drei der Einkaufs­tü­ten aus Papier, die im Moment so modern sind. In mir stei­gen sofort mehrere Vorur­teile auf und tatsäch­lich spre­chen sie mich vor dem Einstei­gen in übels­tem Bayrisch an. Was denn eine Fahrt zum Reichs­tag kosten würde, ich antworte “etwa acht Euro”. Das ist ihnen zu viel, sie gehen wieder weg, viel­leicht fahren sie jetzt mit dem Bus. Ich jeden­falls bringe erst­mal den netten jungen Mann vom Innen­mi­nis­te­rium nach Moabit, der jetzt noch zur Arbeit muss. Europa-Center, Touris­ten, Trubel, lasse ich hinter mir, die neue Fahrt bringt mich in ein Wohn­vier­tel, in eine andere Reali­tät.

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Heiligsprechung eines Antisemiten

Lang­sam kann ich es nicht mehr hören: Martin Luther, hier Martin Luther dort. Im Fern­se­hen, auf Plaka­ten, in Veran­stal­tun­gen, über­all wird der Refor­ma­tor verehrt, der vor 500 Jahren dem Chris­ten­tum eine weitere Spiel­art hinzu­ge­fügt hat. […]

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