Auf der Berliner Stadtbahn, 1882

Am 7. Februar 1882, etwa zehn Jahre nach der Fertig­stel­lung der Ring­bahn, wurde auch die Berli­ner Stadt­bahn fertig­ge­stellt, die den Schle­si­schen Bahn­hof (heute Ostbahn­hof) mit dem West­kreuz verband, wo sie eine Verbin­dung zur Ring­bahn bekam. Im heuti­gen Bezirk Mitte verläuft die Stadt­bahn auf gemau­er­ten Bahn­via­duk­ten genau auf dem ehema­li­gen Wasser­gra­ben, der das alte Berlin als Teil der Befes­ti­gungs­an­lage umschloss.
Der Bau der Stadt­bahn war anfangs von star­ker Kritik beglei­tet, da sie als über­flüs­sig und vor allem zu teuer betrach­tet wurde. Auch andere Teile der Berli­ner S‑Bahn muss­ten sich in ihrer Geschichte immer wieder bewei­sen. Wie in den meis­ten Fällen verstimmte jedoch auch die Kritik am Bau der Stadt­bahn kurz nach deren Fertig­stel­lung.
Einige Monate nach­dem die Stadt­bahn in Betrieb gegan­gen war, beschrieb H. Rudolf seine Gedan­ken und Eindrü­cke während einer Fahrt auf den 11 Kilo­me­tern:

Die erste Anre­gung zur Ausfüh­rung einer Berli­ner Stadt-Eisen­bahn hatte schon vor länger als zehn Jahren der ideen­rei­che und uner­müd­li­che Baurat A. Orth gege­ben und seine Ansich­ten darüber in verschie­de­nen Denk­schrif­ten (“Eine Berli­ner Central­bahn, 1871”) darge­legt. Die Idee wurde bald darauf von dem Ober-Regie­rungs­rat Hart­wich (+ 1878), welcher damals Vorsit­zen­der der deut­schen Eisen­bahn­ge­sell­schaft war, aufge­nom­men und weiter verfolgt. Die ursprüng­li­che Idee Hart­wichs war: Mittels einer von Osten nach Westen durch Berlin gehen­den Stadt­bahn und einer damit in Verbin­dung zu setzen­den projek­tier­ten Südwest­bahn in der Rich­tung über Char­lot­ten­burg und Pots­dam nach Halle usw. bis Meinin­gen den zunächst davon berühr­ten Landes­tei­len neue Adern des Verkehrs zu eröff­nen und dadurch auch eine inni­gere Verbin­dung mit den südwest­li­chen Landes­tei­len und mit der Schweiz zu erzie­len. Dies Projekt fand bei den betei­lig­ten Regie­run­gen das bereit­wil­lige Entge­gen­kom­men, aber die späte­ren ungüns­ti­gen Zeit­ver­hält­nisse hemm­ten die Reali­sie­rung des ganzen großen Projek­tes, indem zunächst der Bau der soge­nann­ten “Südwest­bahn” an der Finanz­frage schei­terte.

Da man aber die Idee der Stadt­bahn selbst, deren Herstel­lung aus mancher­lei Grün­den sich wünschens­wert zeigte, deshalb nicht aufge­ben wollte, so musste eine andere Grund­lage für das Projekt gefun­den werden. Und dass das einmal ange­regte große Unter­neh­men nicht wieder im Sande verlief, war das Verdienst der preu­ßi­schen Staats­re­gie­rung. Unter ihrer Ägide und unter Betei­li­gung verschie­de­ner Eisen­bahn­ver­wal­tun­gen (der Berlin-Pots­dam-Magde­bur­ger, der Magde­burg-Halber­städ­ter und der Berlin-Hambur­ger) sowie auch der deut­schen Eisen­bahn­ge­sell­schaft wurde im Jahr 1874 ein durch die Landes­ver­tre­tung geneh­mig­ter Vertrag geschlos­sen und damit für die Ausfüh­rung der Stadt­bahn eine finan­zi­ell gesi­cherte Basis geschaf­fen. Durch diesen Vertrag wurde dem Unter­neh­men aller­dings formell der Charak­ter einer Akti­en­ge­sell­schaft gewährt, aber der Schwer­punkt bildete doch die natür­lich auch peku­niär am stärks­ten dabei betei­ligte preu­ßi­sche Staats­re­gie­rung. Zur Leitung des Werkes wurde die Direk­tion der Berli­ner Stadt-Eisen­bahn kreiert und ihr Chef wurde der Erbauer der Ring­bahn, Regie­rungs-Baurat Dirck­sen.

Von den unge­heu­ren, beson­ders in den bestehen­den Bauver­hält­nis­sen der alten Stadt­teile liegen­den Schwie­rig­kei­ten die dabei zu bewäl­ti­gen waren, können wir an dieser Stelle nicht einmal eine Andeu­tung geben. Der Bau war beschlos­sen und auch manches, was unmög­lich schien, musste durch­ge­setzt werden. Der Bau begann mit der Zerstö­rung, aber — ein neues Leben erwuchs aus den Ruinen.

In den letz­ten Jahren, seit­dem der Bau von Monat zu Monat, von Woche zu Woche über­sicht­li­cher und deut­li­cher das werdende Werk erken­nen ließ, wurde die Phan­ta­sie des Berli­ners bis zur prickeln­den Unge­duld durch den Gedan­ken gereizt: Wie wird sich von der Höhe dieser Bahn deine geliebte Stadt ausneh­men? Auch der alte Auto­chthone hielt sich über­zeugt: du wirst da so manche Stre­cken durch­fah­ren, auf denen dein Auge nie geweilt, so wenig wie auf den Stra­ßen und Plät­zen von Peking. Das ist denn nun auch buch­stäb­lich einge­trof­fen. Nur frei­lich: von diver­sen dieser Teil­stre­cken zwischen den zehn Halte­punk­ten der Bahn lässt sich auch nicht mit eini­ger Sicher­heit behaup­ten, dass die durch­bro­che­nen Häuser­mas­sen mit ihren häss­li­chen Hofge­bäu­den, halb durch­schnit­te­nen Mauern, schmut­zi­gen Gräben, Garten­stü­cken, Höfen, Maschi­nen­werk­stät­ten, Kohlen‑, Holz‑, Wäsche- und ande­ren Plät­zen beson­ders reiz­volle Wander­bil­der geben. Zuwei­len könnte man aller­dings wünschen, die Teufels­schöp­fung “Eisen­bahn” zu verlas­sen, um unter Führung des Teufels selbst — nämlich Le Sage’s “Diable boiteux” — hier und dort zu verwei­len, und — wenn auch nicht durch die Dächer, so doch — in die Fens­ter zu sehen. Man würde dabei ohne Zwei­fel ebenso viel kuriose Dinge erfah­ren als jener Student unter der Führung des Asmodi aus den Häusern von Madrid. Da aber die Eisen­bahn­ver­wal­tung, so kulant sie auch bisher bei Wünschen des Publi­kums gegen­über sich gezeigt, durch­aus keine Neigung zu haben scheint, mit beson­de­rer Bereit­wil­lig­keit auf solche Neben­zwe­cke einzu­ge­hen, so müssen wir uns schon mit dem begnü­gen, was an den Fens­tern selbst zu sehen ist. Und das waren in der ersten Zeit meist nur neugie­rige, zuwei­len auch wohl ärger­li­che Gesi­cher.

Indes­sen der Haupt­reiz ist und bleibt die völlig verän­derte Psysio­gno­mie, welche auch die bekann­tes­ten Teile Berlins anneh­men, wenn man sie von diesem Längen­grad, der zugleich auch ein Höhen­grad ist, betrach­tet. Es ist etwas Bekann­tes und doch auch zugleich Frem­des, so dass des Berli­ners bekannte Neigung, das Fremde zu bewun­dern, sich hier mit seinem nicht minder star­ken Lokal­pa­trio­tis­mus sehr glück­lich verei­nigte. Über die Stra­ßen, welche die Bahn durch­schnei­det, geht es aller­dings meist zu schnell hinweg, als dass man von der “Aussicht” viel profi­tie­ren könnte. Man reckt den Kopf, jetzt eine uns bekannte und inter­es­sante Straße mit schnel­lem, siche­rem Blick zu über­schauen, und hört zu seiner Verwun­de­rung vom Nach­bar, dass man dieselbe schon vor einer Minute passiert habe. Das befrie­di­gen­dere Inter­esse erre­gen deshalb die Bahn­höfe mit ihrer nächt­li­chen Umge­bung. Einmal lässt das hier etwas gemä­ßig­tere Tempo des Zuges dem Fahr­gast mehr Zeit, sich ein wenig umzu­schauen; sodann sind die Bahn­höfe meist an solchen Punk­ten der Stadt ange­bracht, welche dem Blick eine weitere Aussicht gestat­ten.

Der östli­che Endpunkt der Bahn, die Halle am Schle­si­schen Bahn­hof, ist im Bau noch am weites­ten zurück­ge­blie­ben, und für die ersten Monate des Betrie­bes musste man sich mit einem dürf­ti­gen Notper­ron begnü­gen. Auch die ganze Stre­cke von hier bis zum nächs­ten Halte­punkt zeigt vorzugs­weise die Schat­ten­seite Berlins, welche oben kurz charak­te­ri­siert worden ist. Nur ein paar lange Stra­ßen in der Nähe des Bahn­hofs, über welche die Züge hinweg­brau­sen, bezeich­nen wenigs­tens die unge­heute Ausdeh­nung der Stadt.

Ange­neh­mer wird das Bild vor dem nächs­ten Halte­punkt, der den Namen von der zunächst gele­ge­nen Janno­witz­brü­cke führt. An dieser Stelle musste auf eine bedeu­tende Stre­cke längst dem nörd­li­chen Spree­ufer der Viadukt im Strom­bett selbst erbaut werden, so dass man sich sogar den Luxus gestat­tete, die Breite des Flus­ses einzu­schrän­ken.

Von dem Bahn­hof “Janno­witz­brü­cke”, an dem Verei­ni­gungs­punkt der Alex­an­der- und Holz­markt­straße, hat man für etwa eine halbe Minute einen freien Blick über den Spree­ver­kehr und die nächste Umge­gend. Hier, wo zur Sommer­zeit die Spree die zahl­rei­chen Vergnü­gungs­fahr­zeuge nach Stra­lau und Trep­tow aufnimmt, fühlt man sich schon inmit­ten des beweg­ten Geschäfts­le­bens der Stadt. Über die von Menschen durch­wog­ten Stra­ßen hinweg sieht man die Spree, um welche sich die zahl­rei­chen Tuch­fa­bri­ken und Färbe­reien gela­gert haben. Hinter den nächs­ten Stra­ßen­häu­sern zeigt sich der Turm der Waisen­hauskir­che, weiter zurück der Turm des Rathau­ses; rechts davon der der Paro­chi­al­kir­che mit seinem Glocken­spiel, und von links ragen die beiden schar­fen Spit­zen der vor eini­gen Jahren schön restau­rier­ten Nico­lai­kir­che. Für dieje­ni­gen, welche aus dem Westen und Nord­wes­ten der Stadt die Bahn frequen­tie­ren, hat — beiläu­fig bemerkt — die Station Janno­witz­brü­cke noch die edle Bestim­mung, den Besuch zweier, nur fünf Minu­ten davon entfern­ten Thea­ter zu erleich­tern: des Wall­ner- und des Resi­denz-Thea­ters. Da die Leser zu meinem Bedau­ern augen­blick­lich keinen Gebrauch von dieser verlo­cken­den Gele­gen­heit machen können, mögen sie faute de mieux auf der Bahn­stre­cke fahren, welche den langen Häuser­kom­plex zwischen der Alex­an­der- und Neuen Fried­rich­straße in nord­west­li­cher Rich­tung durch­schnei­det. Hier hat man nach links wohl zuwei­len enge Durch­bli­cke, welche die in der Neuen Fried­rich­straße gele­ge­nen Gebäude eini­ger­ma­ßen erah­nen lassen: so die Hinter­häu­ser des Gymna­si­ums zum “Grauen Klos­ter”, des ältes­tens Gymna­si­ums in Berlin, und des Lager­hau­ses; aber über alles hinweg als ein Riese ragt wiederum der breite Turm des Rathau­ses, welcher in der Tat als ein Wach­turm für ganz Berlin erscheint. Sowohl sein kräf­ti­ger Körper­bau, wie die ihn zierende Farbe der Gesund­heit lassen hoffen, dass er diese ehren­volle Bestim­mung noch unge­zählte Jahr­hun­derte unent­wegt und uner­schüt­tert erfül­len werde.

Kaum haben wir von ihm den Blick gewen­det, so sehen wir plötz­lich ein gewal­ti­ges Leben von allen Seiten uns umflu­ten. Wir sind an einem Haupt­ver­kehrs­punkt des “alten Berlins” ange­langt: an der Station Alex­an­der­platz. Es ist dies wohl die inter­es­san­teste Stelle der ganzen Stadt­bahn. Ausge­zeich­net durch einen gewis­sen male­ri­schen Reiz und ebenso reich an vollem Leben der Gegen­wart wie an Erin­ne­run­gen, welche in die Vergan­gen­heit, bis in die “gute alte Zeit” zurück­rei­chen. Selbst der Fremde, welcher die Bahn nur befährt, um sie kennen zu lernen, sollte über diesen eigent­li­chen Mittel­punkt der inne­ren Stadt nicht so schnell hinweg­ei­len, sondern, um das reich­le­ben­dige Gemälde von der die ehema­lige “Königs­brü­cke” über­kreu­zen­den Bahn­brü­cke recht zu genie­ßen, hier ausstei­gen und den nächs­ten Zug zur Weiter­fahrt benut­zen. Nach südli­cher Rich­tung sieht man die ganze alte König­straße hinauf bis zum Schloss­platz. Das volle Bild dieser stärks­ten Verkehrs­ader des alten Berlins erhält jene male­ri­sche Einfas­sung durch die alten Colon­na­den, jenen zopfi­gen Bau (von A. Boumann) aus der Mitte des vori­gen Jahr­hun­derts, dessen Archi­tek­tur aber durch die Bild­werke von Tessaert einen eige­nen Reiz erhal­ten hat. Hinter der linken Seite dieser Colon­na­den war lange Zeit das volks­tüm­li­che Vergnü­gungs­lo­kal “Villa Colonna”, in noch frühe­rer Zeit “Faust’s Winter­gar­ten”.

Das alles muss nun mehr und mehr den bauli­chen Bedürf­nis­sen der Gegen­wart zum Opfer fallen. Es wäre aber sehr bedau­er­lich, wenn man nicht wenigs­tens die Colon­na­den selbst erhal­ten könnte. Die alte Königs­brü­cke wurde durch die Stadt­bahn über­flüs­sig; das trübe Wasser, welches darun­ter sich sehr lang­sam fort­be­wegte und aus welchem einige sonder­bare Schwär­mer noch sonder­ba­rere Fische zu angeln pfleg­ten, dieser soge­nannte “Königs­gra­ben” musste für die Stadt­bahn in festen Grund und Boden umge­wan­delt werden. Die Trocken­le­gung dieses von der Strau­aluer Brücke bis nach Monbi­jou die alte “Königs­stadt” im Halb­kreis umschlie­ßen­den Grabens war allein schon eine gewal­tige Aufgabe: seine Ausfül­lung und Befes­ti­gung erfor­derte gegen 100.000 cbm Mauer­werk.

Die Passage der ehema­li­gen Königs­brü­cke, eines der lebhaf­tes­ten Verkehrs­punkte Berlins, bildet jetzt mit ihrer Über­brü­ckung durch die Stadt­bahn ein fesseln­des Ensem­ble groß­städ­ti­schen Lebens, mit seinem neben- und über­ein­an­der sich fort­be­we­gen­den Gewühl von Menschen und Fuhr­wer­ken dem impo­san­ten Stra­ßen­bilde von Ludgate-Hill in der Londo­ner City nicht viel nach­ste­hend.

Wendet man, der alten König­straße den Rücken kehrend, den Blick vorwärts, so über­sieht man den ganzen Alex­an­der­platz. Hier münden nicht nur ein halbes Dutzend der volk­reichs­ten und gewerb­tä­tigs­ten Stra­ßen, hier ist auch die Endsta­tion für zwei Pfer­de­bahn­li­nien und dazu noch ein über­aus lebhaf­ter Markt­ver­kehr. Rechts erkennt man noch flüch­tig die in einfa­chem aber edlem Stil gebaute Haupt­fas­sade des ehema­li­gen “König­städ­ter Thea­ters”, seiner­zeit für Oper und Schau­spiel ein Muster­thea­ter, wie Berlin seit­dem kein ähnli­ches wieder erhal­ten hat. Es stimmt wehmü­tig, wenn man jetzt den Blick auf dies Gebäude rich­tet, und dort, wo einst Henri­ette Sontag, Spit­ze­der, Schmelka, Beck­mann und andere ihre Glanz­zeit hatten, nur noch die riesi­gen Schil­der für Woll- und Tuch­la­ger, Mäntel­fa­brike usw. sieht. Gegen­über aber steht unver­sehrt das alte breite, in golde­nen Buch­sta­ben die Aufschrift “Zum Kaiser Alex­an­der” tragende Haus, wo viel­leicht in alter Zeit die “neue Wein­stube” war, in welcher E.T.A. Hoff­mann eine seiner drol­ligs­ten Spuk­ge­schich­ten begin­nen lässt. In der nächs­ten Straße befin­det sich ein ande­res Haus, ausge­zeich­net durch eine noch bedeut­sa­mere und ältere Remi­nis­zenz: das Haus Nr. 10 in der ziem­lich stil­len Seiten­straße, die den Namen “Zum Königs­gra­ben” führt. Dieses Haus hat über dem Eingangs­tor eine hübsche Büste Lessings, vor Jahren hier von dem Verein für die Geschichte Berlins gestif­tet; und die unter der Büste befind­li­che Tafel trägt die Inschrift “Lessing dich­tete hier Minna von Barn­helm, 1765”.

Nach­dem wir diese Umschau gehal­ten, stei­gen wir die beque­men Trep­pen zum Bahn­hof wieder hinauf. Der Zug von Osten kommt eilig herbei; er hält in der riesi­gen Halle, und nach einer Minute fahren wir weiter gen Westen, an dem alten Getrei­de­ma­ga­zin hart vorbei, dann über die alte Roch­brü­cke hinweg, die das Privi­le­gium hatte, für ihre Verbin­dung der Münz- und Neuen Fried­rich­straße den Passan­ten den alten Berli­ner “Sech­ser” abzu­neh­men, ein Privi­le­gium, über welches jedoch die Fahr­gäste der Stadt­bahn sich lachend hinweg­set­zen. Die nächste Station “Börse” ist schon in zwei Minu­ten erreicht. Der nicht so große, aber sehr gefäl­lige Bahn­hof liegt zwischen der Span­dauer Brücke und Monbi­jou. Das Börsen­ge­bäude selbst bleibt vorläu­fig unse­rem Auge verborgen.Dafür erhal­ten wir aber sogleich nach dem Verlas­sen der Bahn­hofs­halle einen inter­es­san­ten Über­blick über die den Lust­gar­ten umge­ben­den Gebäude. Zunächst über die Herku­les­brü­cke hinweg reicht unser Blick bis zu dem Schlosse; dann sausen wir an dem eigent­li­chen “Spree-Athen”, an den Museen und der Rück­seite der Natio­nal­ga­le­rie vorüber; gelan­gen, kaum dass wir’s gewahr werden, auf einer massi­ven Brücke hinüber zum ande­ren Spree­ufer, wo dann auch alle Herr­lich­keit im Nu wieder verschwun­den ist. Nach­dem wir den schma­len Kupfer­gra­ben über­sprun­gen haben, ist die Bahnhli­nie eine kurze Stre­cke lang wieder zu beiden Seiten von Häuser­rei­hen einge­schlos­sen. Da aber heißt es plötz­lich: Augen links und gleich­zei­tig Augen rechts! Wir passie­ren die große Fried­rich­straße, welche man hier in ihrer ganzen Ausdeh­nung nach Norden und nach Süden über­bli­cken kann. Das gewährt nament­lich des Abends durch die unab­seh­ba­ren Linien der Gasla­ter­nen ein impo­san­tes Schau­spiel. Nur schade, es verschwin­det so schnell — schnel­ler als ein Meteor. Gleich auf der ande­ren Stra­ßen­seite fahren wir in die groß­ar­tige Halle des Bahn­hofs “Fried­rich­straße” ein. Die Halle dieses Zentral­bahn­hofs ist in glei­chem Stil und in fast glei­chen Größen­ver­hält­nis­sen gebaut wie der Bahn­hof “Alex­an­der­platz”.

Beides sind die groß­ar­tigs­ten Hallen der Stadt­bahn, und auf beiden ist auch die Frequenz die weit über­wie­gend stärkste. Stets ist der Besuch eines dieser großen Bahn­höfe von eigen­ar­tig fesseln­dem Reiz. Die schö­nen Vorräume im unte­ren Teil, wo auch die Billet­schal­ter sich befin­den, die weiten und schö­nen Aufgänge mit beque­men Trep­pen, dann die Halle selbst, die mit einem riesi­gen Tonnen­ge­wölbe aus eiser­nem Sparr­werk über­dacht ist und beson­ders abends durch das elek­tri­sche Licht einen beinahe feier­li­chen Eindruck macht. Dazu die fort­wäh­rend an- und abfah­ren­den Passa­giere, dazwi­schen die soli­den Zeitungs­ver­käu­fer, die sämt­li­che unter der Direk­tion eines einzi­gen Unter­neh­mers stehen und ebenso billig wie höflich sind — kurz, das alles stimmt so treff­lich zusam­men und greift so glatt und ruhig inein­an­der, dass es voll­kom­men begreif­lich erscheint, wenn der Berli­ner die Stadt­bahn in ausge­dehn­tem Maße zu Vergnü­gungs­fahr­ten benutzt. Und die Art der Benut­zung wird im Sommer immer allge­mei­ner werden, beson­ders nach den west­li­chen Statio­nen, die schon vom Lehr­ter Bahn­hof ab außer­halb der Stadt liegen.

Die Stre­cke von “Fried­rich­straße” bis “Lehr­ter Bahn­hof” führt zunächst beim Schiff­bau­er­damm mittels einer genial konstru­ier­ten Brücke wieder auf das nörd­li­che Spree­ufer hinüber, und nach­dem sie die Luisen­straße und äußere Karl­straße durch­schnit­ten hat, wird sie durch einen lang sich hinzie­hen­den und frei­ste­hen­den Viadukt zum Lehr­ter Bahn­hof gelei­tet. Nach­dem man beim Zellen­ge­fäng­nis, bei der Ulanen­ka­serne usw. vorüber durch Alt-Moabit gefah­ren, tritt die grüne Land­schaft immer mehr in ihre Rechte. Zunächst bietet “Belle­vue” am südli­chen Spree­ufer mit den schö­nen Park­an­la­gen einen ange­neh­men sommer­li­chen Ruhe­punkt. Dann durch die an Alt-Moabit sich anschlie­ßen­den, zum Teil eben erst ange­leg­ten Stra­ßen hindurch setzt die Bahn in der Nähe der königl. Porzel­lan­fa­brik über die in gera­der Linie nach Char­lot­ten­burg führende Haupt­al­lee des Tier­gar­tens, um an der nächs­ten Station “Zoolo­gi­scher Garten” ein star­kes Kontin­gent von Passa­gie­ren abzu­lie­fern.

Der Besuch dieses Vergnü­gungs­parks, der ohne­dies beim Berli­ner Publi­kum sich beson­de­rer Beliebt­heit erfreut, wird durch die Stadt­bahn noch sehr gestei­gert werden, da jetzt die Bewoh­ner selbst der am weites­ten nach Osten gerück­ten Stadt­teile das früher in nebel­grauer Ferne liegende Ziel ihrer Sehn­sucht in weni­gen Minu­ten errei­chen können. Der Bahn­hof liegt an der hinte­ren (west­li­chen) Seite des Gartens, aber die Verwal­tung hat schleu­nigst die Einrich­tung getrof­fen, dass an Sonn- und Concert­ta­gen das Publi­kum auch von dieser — sonst unzu­gäng­li­chen — Seite Eintritt erlan­gen kann.

Weni­ger güns­tig erweist sich die Bahn­ver­bin­dung für die beiden noch weiter nach Westen liegen­den Statio­nen Char­lot­ten­burg und West­end. Da nament­lich der Char­lot­ten­bur­ger Bahn­hof sehr weit entfernt vom Orte liegt, so wird für die Besu­cher des Schloss­par­kes mit dem Mauso­leum die bestehende Pfer­de­ei­sen­bahn nichts von ihrem Anse­hen verlie­ren. Es ist aber neuer­dings schon der Plan gefasst, von diesem entle­ge­nen Bahn­hof aus noch eine Zweig­bahn anzu­le­gen, welche bis zum Mittel­punkte von Char­lot­ten­burg führen soll.

Dass über­haupt die Stadt­bahn nicht auf der ganzen Stre­cke gleich­mä­ßig stark frequen­tiert werden würde, war leicht voraus­zu­se­hen. Nach der Zahl der verkauf­ten Billets stehen voran die drei Stati­ons­punkte Schle­si­scher Bahn­hof, Alex­an­der­platz und Fried­rich­straße (und zwar in aufstei­gen­der Zahl). Sobald der voll­stän­dige Kurs­plan inklu­sive aller Verbin­dun­gen mit den großen in Berlin münden­den Eisen­bahn­li­nien ins Leben getre­ten sein wird, mag die Verkehrs­sta­tis­tik wohl noch weitere Verän­de­run­gen auswei­sen. Im Allge­mei­nen wird das Verhält­nis blei­ben, wie es jetzt ist: der Lokal­ver­kehr wird eben stets die weit über­wie­gende Masse von Passa­gie­ren liefern. Bereits in den ersten Mona­ten ist dieser Lokal­ver­kehr ein so großer gewor­den, wie man ihn wohl kaum erwar­tet hatte. Und auch dieje­ni­gen, welche von vorn­her­ein beim großen Unter­neh­men gegen­über sich sehr skru­pu­lös verhal­ten haben, tragen bereits mit Vergnü­gen zur Prospe­ri­tät dessel­ben bei. An den Sonn­ta­gen sind bisher je 50.000 bis 60.000 Billets ausge­ge­ben worden, häufig noch mehr, so dass die vorhan­de­nen Beför­de­rungs­mit­tel, obwohl man sie mit dem gestei­ger­ten Bedürf­nis nach Möglich­keit vermehrte, so unzu­rei­chend blie­ben. Auch für die Wochen­tage gilt die Durch­schnitts­zahl von 15.000 Billets eine ganz ansehn­li­che.

Nach dem bisher bestehen­den Fahr­plan, in welchem noch nicht der ganze externe Verkehr aufge­nom­men werden konnte, gehen auf der Stadt­bahn täglich von Ost nach West und von West nach Ost je 102 Züge, so dass also nach beiden Rich­tun­gen hin täglich sich 204 Eisen­bahn­züge bewe­gen. Für die Sonn­tage — das stellte sich schon bei der ersten Fahrt heraus — konn­ten die nur alle zehn Minu­ten gehen­den Züge, wenn man auch die Wagen­zahl beträcht­lich vergrö­ßerte, dem Bedürf­nis keines­wegs genü­gen. Man hatte deshalb für alle Fest­tage noch drei­ßig Extra­züge einge­legt, um die Masse der harren­den Fahr­gäste expe­die­ren zu können.

Damit die für den exter­nen Verkehr bestimm­ten Züge mit dem so groß­ar­ti­gen Lokal­ver­kehr nicht kolli­die­ren, so hatte man von vorn­her­ein bei der Anlage der Bahn ein bloß doppel­tes Geleise als unge­nü­gend erkannt und die ganze Bahn­stre­cke, deren Länge über 11 km — also etwa andert­halb geogra­fi­sche Meilen — beträgt, mit vier Gelei­sen ausge­stat­tet. Erst allmäh­lich wird die Einrich­tung in ihrer ganzen geplan­ten Voll­stän­dig­keit zur prak­ti­schen Verwen­dung kommen. Wir haben aber jetzt schon an der Stadt­bahn-Verwal­tung die erfreu­li­che Erfah­rung gemacht, dass dieselbe allen aus dem Publi­kum und der Presse laut­wer­den­den Wünschen so viel als möglich nach­kommt und so haben die Erfah­run­gen in den ersten Mona­ten schon eine Menge erheb­li­cher Verbes­se­run­gen herbei­ge­führt.

Mehr und mehr werden auch die solide aus Ziegel­stei­nen gemau­er­ten Bogen, welche durch die Pfei­ler der Viadukte gebil­det werden, zu indus­tri­el­len Zwecken verwer­tet. Die ersten segens­rei­chen Insti­tute, die sich ihrer bemäch­tig­ten, waren die Bier­braue­reien. Schon lange vor Voll­endung der Bahn hatte sich in der Luisen­straße die Moabi­ter Braue­rei unter dem Titel “Zum Kyff­häu­ser” unter fünf solchen Stadt­bahn­bo­gen etabliert und in altdeut­schem Stile ein viel­be­such­tes Bier­lo­kal herge­stellt. Noch größer und auch elegan­ter ist das Etablis­se­ment “Zum Fran­cisca­ner” an der Kreu­zung der Fried­rich- und Geor­gen­straße. Wie viel­sei­tig aber diese Stadt­bahn­bo­gen zu verwen­den sein werden, das sehen wir schon jetzt am Lehr­ter Bahn­hof, wo der bedeu­tende Bauplatz der Mitte Mai eröff­ne­ten hygie­ni­schen Ausstel­lung an den Stadt­bahn-Viadukt sich anlehnt.

Ob bei den unge­wöhn­li­chen hohen Kosten der Stadt­bahn — sie belau­fen sich auf nahezu 70 Millio­nen Mark — von einer Renta­bi­li­tät wird die Rede sein können? Das zu erfor­schen oder darüber zu mutma­ßen und zu prophe­zei­hen, möge ande­ren über­las­sen blei­ben.

Jeden­falls ist dieser groß­ar­tige Bau der Neuzeit schon jetzt für den Berli­ner ein nütz­li­ches und ange­neh­mes Verkehrs­mit­tel, für den Frem­den eine der hervor­ra­gends­ten Sehens­wür­dig­kei­ten der Reichs­haupt­stadt gewor­den. Der Nach­weis ihrer stra­te­gi­schen Bedeu­tung möge aber noch recht lange auf sich warten lassen.

H. Rudolf

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