Stehauf-Männchen

In der Haupt­stadt des Ab­sturzes, wo Hartz IV, Armut und Perspek­tiv­lo­sig­keit zum Alltag gehö­ren, gibt es auch Menschen, die sich diesem Schick­sal nicht erge­ben. Die sich immer wieder aufrap­peln, weil sie nicht akzep­tie­ren wollen, dass ihnen ein gutes Leben verwehrt ist. Oder weil sie einfach nicht anders können.
Jürgen K. gehört zu ihnen. Er hat sich im Leben schon manches Mal verirrt. Trotz­dem hat er bis heute aus eige­ner Kraft über­lebt. Das war nicht immer sicher.

Die abend­li­chen Taxi­fah­rer vom Haupt­bahn­hof kennen ihn. Unter den Glei­sen, da wo 100 Wagen auf der Nach­rü­cke stehen, hat Jürgen seinen klei­nen, mobi­len Stand. Heißer Kaffee und Bröt­chen sind der Renner, aber es gibt auch Salate, Kalt­ge­tränke, Kuchen, Süßig­kei­ten. Das Ange­bot wech­selt täglich, und es ist etwas Beson­de­res: Alles ist frisch, Brot und Kuchen sind selbst geba­cken, die Gewürze aus Eigen­an­bau, die Salate selber zusam­men­ge­stellt. Alles ist lecker, reich­lich und frisch und die Kutscher wissen, dass sie bei ihm etwas Gutes bekom­men. Andere Kunden gibt es nicht, hier kommt niemand vorbei, höchs­tens mal jemand von der Bundes­po­li­zei gleich nebenan oder ein Obdach­lo­ser, der für seine Stul­len nicht zahlen braucht.

Jürgens Karriere nach unten begann schon früh, ein paar Jahre Ruhr­ge­biet, Saudi-Arabien, mit 13 nach West-Berlin, Zeitungs­ver­tre­ter, mit 15 die ersten Drogen­er­fah­rung, nicht nur Haschisch, sondern härter. Die Auswan­de­rung nach Marocco endete schon ins Dins­la­ken, eine Frau, zwei Kinder, aber mit dem bürger­li­chen Leben hat es nicht geklappt. Nach der Schei­dung kam der Absturz, dies­mal haupt­säch­lich mit Alko­hol. Es folg­ten Knast, Entzie­hungs­ku­ren, dann endlich doch noch Marocco, Spanien, Frank­reich. Aber das Leben hält sich nicht an Pläne, zurück in Deutsch­land ging es wieder bergab.
“Man muss sein Leben selber bestim­men”, lernte Jürgen K. bei Syna­non, dem Drogen­the­ra­pie­kon­zern. Bei seinen Streif­zü­gen durch Berlin kam er auch am Bahn­hof Zoo vorbei, sprach dort mit Taxi­fah­rern, verkaufte Obdach­lo­sen-Zeitun­gen. Die Kutscher woll­ten lieber Kaffee, also hatte er am nächs­ten Tag eine Ther­mos­kanne dabei und abends 10 Mark in der Tasche. Bald kam er täglich mit seinem Einkaufs­wa­gen, Kaffee und Tee, ein paar belegte Brote. Manch­mal warte­ten hundert Taxis am Bahn­hof, das lohnte sich, vor allem, weil Jürgen von Anfang an auf Quali­tät achtete. Er wusste genau: Wer einmal etwas Verdor­be­nes anbie­tet, der hat verspielt. Unter den Taxlern spricht sich das schnell herum.
Bald kamen auch die Poli­zis­ten vom Bahn­hof, meis­tens zum Essen, nur einer verlangte immer wieder die Papiere, Gewer­be­karte, Beschei­ni­gun­gen vom Bezirks­amt, Gesund­heits­amt usw. Stand sein klei­ner Wagen auf dem Bürger­steig, dann war das Bahn­ge­lände, 50 Zenti­me­ter weiter auf der Straße ist öffent­li­ches Stra­ßen­land. Aber auch nur begrenzt öffent­lich. Die deut­sche Büro­kra­tie bietet genug Fall­stri­cke, Jürgen musste sie alle über­win­den.
Irgend­wann konnte er vom Gewinn leben, eini­ger­ma­ßen. Aber sieben Arbeits­tage pro Woche, von morgens bis in die Nacht, das geht nicht ewig gut. Jürgen stellte eine Hilfe ein, die aber verschwand mit dem meis­ten Geld. Schließ­lich kam noch­mal ein Absturz.

Heute ist Jürgen K. trocken und wieder auf dem Posten. Er hat erkannt, dass dies die einzige Chance ist, die das Leben ihm bietet. Und er hat sie noch­mal ergrif­fen, nach der Thera­pie wieder von vorn begon­nen. Natür­lich sind neue Schwie­rig­kei­ten da, Sonder­nut­zungs­ge­neh­mi­gung, Konkur­renz, die Bahn, Ordnungs­amt usw., aber er kämpft sich da erneut durch. Stän­dig probiert Jürgen K. neue Ange­bote aus, wo bekommt man schon Bröt­chen mit Wild­schwein­fleisch, Forel­len- oder Rotbarsch­fi­let und alles für weni­ger als den halben Preis einer Kurz­stre­cke. Die meis­ten Taxi­fah­rer mögen ihn, sie haben ein ruppi­ges, aber herz­li­ches Verhält­nis: “Mensch Jürgen, siehst du heute wieder scheiße aus.” — “Egal, solange ich bloß nie als Taxi­fah­rer enden muss.”

Nach­trag:
Er hat es nicht geschafft. Im Sommer 2010 ist Jürgen gestor­ben.

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Zufallstreffer

8 Kommentare

  1. Sehr, sehr schön.

    Ich will schon lange mal ein Inter­view mit einem Kreuz­ber­ger Unikum machen, den ich morgens an meiner Ablöse treffe. Der macht jeden Tag Kreuz­berg sauber. Er beginnt um vier­tel vor sechs an meiner Ablöse und arbei­tet sich Rich­tung Schle­si­sches Tor.
    Aber ich kann um diese Uhrzeit noch nicht rich­tig reden, geschweige denn jeman­den ausfra­gen. :-( So blieb es bisher bei einem “Guten Morgen” Seine Antwort: “Ist ja alles wieder so dreckig hier”.
    Aber auf seinen Hinter­grund bin ich schon neugie­rig.

  2. Oh, ich glaube ich weiß, wen Du meist. Dünn, älte­ren Datums und immer sehr gehetzt? Der hat schon vor 10 Jahren dort “sauber­ge­macht”, Aufkle­ber und Plakate abge­ris­sen usw. …

  3. Genau der. Weißt Du was über ihn? Ich hätte vor kurzem sogar Zeit gehabt mit ihm zu reden. Habe vergeb­lich auf meine Taxe gewar­tet. Aber ich krieg um die Uhrzeit noch nichts vernünf­ti­ges raus.

  4. Ein schö­ner Text der zeigt, dass man nicht nur zuhause sitzen muss und Däum­chen drehen. Die Menschen, die sich selber immer wieder aus dem Schla­mas­sel heraus helfen, sind für mich beach­tens­wert, ich habe großen Respekt vor ihnen. Hoffen­tich schafft Jürgen das!

  5. Hallo Jürgen! Du bist echt ne Type, du lässt dir die Butter nicht vom Brot nehmen, das hat man auch in Leip­zig gemerkt! :) Deine Geschichte (die ich ja nun hier gefun­den hab) hat mich umso mehr beein­druckt. Ich wünsch dir alles, alles Gute für die Zukunft und deine Taxen (und lass dir vom Amt nix erzäh­len, bin mir irgend­wie sehr sicher, dass du das schaffst)!

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