Platzrunde

Die Geschichte ist unten, oben ist alles Gegen­wart. Der U‑Bahnhof Rosa-Luxem­burg-Platz ist mit Colla­gen geschmückt, deren Aufklä­rungs­wert größer wäre, wenn sie nicht versuch­ten, Kunst zu sein.
Der Obdach­lose betrach­tet den aufklä­re­ri­schen Wand­schmuck nicht, er sucht im Müll­be­häl­ter eine wegge­wor­fene Zeitung, findet eine, kennt sie schon und wirft sie enttäuscht zurück.
Ich steige über die Treppe zur Torstraße aus der Unter­welt hervor. Unter­mit­telt stehe ich mitten in den Blumen­ar­ran­ge­ments eines ambu­lan­ten Händ­lers. Das am Gitter ange­ket­tete Vorder­rad eines sonst ganz verschwun­de­nen Fahr­ra­des gibt einen ironi­schen Kommen­tar zu dem Kunst-Rad auf Beinen, das ein Stück­chen weiter vor der Volks­bühne aussagt, dass die Räder der Menschen schließ­lich auch nicht schnel­ler laufen als die Menschen selber.

Die Torstraße, die von der Stra­ßen­bahn in Hüben und Drüben geteilt wird, zitiert einen alten Weg, der in unerin­ner­ter Zeit an der Stadt­mauer entlang lief und Prenz­lauer und Schön­hau­ser Tor verband.
Dieser Weg trug den schö­nen Namen Schön­hau­ser Commu­ni­ca­tion. An diesem Namen hätte der Senat von Berlin sich erin­nern sollen, als er Wilhelm Pieck, der der Straße mehr als 40 Jahre den Namen gege­ben hat, aus der Berli­ner Geschi­che auswies.
An der glat­ten Wand gegen­über bietet sich die “Lehmann Crew” für die “Orga­ni­sa­tion und Produk­tion von Fami­li­en­fei­ern” an. Rech­ter Hand an der klei­nen Bude auf dem Rasen­stück zwischen Rosa-Luxem­burg‑, Linien- und Torstraße steht: “Nieder mit dem Killer-Staat USA”, darun­ter: “Frei­heit für Abu Jamal”; das heißt soviel wie: Weg mit der Todes­strafe! Für diese Forde­rung stehe ich auch. Ein ande­res Land als die USA wüsste ich trotz­dem nicht, wenn man mich hier vertriebe.

Ich biege in die Zola­straße ein. Wenn ich mich umwen­dete und blickte am post­mo­der­nen Neubau der Deut­schen Immo­bi­lien Leasing vorbei, sähe ich am Ende des Guck­kas­tens Straß­bur­ger Straße den Wasser­turm Belforter Straße. In seinen Kellern folter­ten die Nazis. In den Sträu­chern des Kinder­spiel­plat­zes zu meiner Linken pfei­fen und singen die Spat­zen. An denen hätte Rosa Luxem­burg ihren Spaß gehabt.
Der Sonder- und Sepa­rat­platz, den Weydinger‑, Linien- und Bartel­straße bilden, ist ein empfeh­lens­wer­ter Beob­ach­tungs­punkt.
Am auffäl­ligs­ten ist ist das aktu­elle Rosa eines Bank-Neubaus. Die Bank für kleine und mitt­lere Unter­neh­men hat hier ihren Sitz, der Name des Staats­un­ter­neh­mens im Privat­an­zug klingt hübsch, gegen­über im Lieb­knecht-Haus unter­hal­ten Banker und Banke­rin­nen eine Bera­tungs­ge­sell­schaft.
Wenn man die Lini­en­straße zuende blickt, sieht man das kahle Gesträuch des St. Marien- und St. Nico­lai-Fried­hofs und als Bild­be­gren­zung das Haus, in dem man auch an den Werken von Rosa Luxem­burg gear­bei­tet und lange gebraucht hat, bis man den schöns­ten ihrer Sätze zum Druck frei­ge­ge­ben hat: “Frei­heit ist immer nur Frei­heit des anders Denken­den”.

Die Bartel­straße, die das Karl-Lieb­knecht-Haus rück­wärts begrenzt, ist heute kaum noch eine Straße, sie endet in einer Tief­ga­rage und ist mit einer Schranke verschlos­sen. Wenn ganz Berlin priva­ti­siert ist, wird es viele solcher Stra­ßen geben, die sich nur auf die Platik­kar­ten der Besit­zer öffnen. Unter der Herr­schaft des Zensur­staa­tes, lernen wir hier, war es also genauso.
Am Karl-Lieb­knecht-Haus gehe ich vorüber und an Gregor Gysis Praxis.

Ich friere schon ein biss­chen. Für einen Milch­kaf­fee gehe ich ins “Tati”, das drei­eckig neben dem Kino Baby­lon in Poel­zigs Haus liegt und den Namen des fran­zö­si­schen Komi­kers fest­hält, der die Moderne kari­kierte. Die Post­mo­derne hätte er sich auch vorge­nom­men. Das “Tati” ist ein ange­neh­mes Kaffee­haus. Wenn es drau­ßen dunkel ist, ist es auch drin­nen ein biss­chen dunkel. Ich schreibe im gelben Licht der Bogen­lampe von drau­ßen. In der Männer­toi­lette über den Urina­len ist eine grün­li­che Tafel ange­bracht, auf der man — wenn man’s kann — schrei­ben kann, während man pisst.
“Oh Castorf!” steht oben, darun­ter hat einer zu schrei­ben versucht: “Schrei­ben und Pissen”, ein frus­trier­ter Intel­lek­tu­el­ler hat darun­ter gesetzt: “Fres­sen und Ficken. Was sonst!” Die wich­tigste aller Begna­di­gun­gen, will dieser Mann viel­leicht zitie­ren. Trink, iss, schlafe, schnar­che, träume!
Unten im U‑Bahnhof steht unter Käthe Koll­witz und überm Kriegs­grä­ber­feld: “Saat­früchte dürfen nicht vermah­len werden”. Das Leben ist eine Falle.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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