Zwischen den Zeitstühlen

Grenz­gänge VII

Zur Garten- und Bernauer Straße. In goti­schen Lettern steht es im Nord­bahn­hof. Die Grenze zwischen Wedding und Mitte ist hier schon immer eine Mauer. Es ist eine Mauer, die sich Mühe gibt, nur gegen­über dem Garten­platz ist sie einfach Mauer, sonst ist sie auch Gestalt, sie drückt etwas aus oder will etwas verber­gen.
Wer heute an dieser langen Mauer lange entlang geht, bis sie oben an der Liesen­straße um die Ecke biegt, der empfin­det Ruhe. In den Wohn­häu­sern gegen­über vermu­tet man Leute, denen man sich zuzäh­len könnte, befrie­dete Genos­sen eines Arbei­ter­kamp­fes, den keiner mehr führt, führen muss oder der dane­ben gegan­gen ist in unkla­rem Ausgang. Aber die bittere Not, die Ausbeu­tung und die Menschen­ver­ach­tung, mit der hier, nahe­bei, der deut­sche Kapi­ta­lis­mus begann, davon sieht man nichts mehr.
Der Kammer­herr von Soundso, er verdient es nicht, mit Namen genannt zu werden, errich­tete hier die ersten Miets­ka­ser­nen, Ausbeu­tungs­bur­gen, wie der große Cicero im alten Rom seine insu­lae, in denen er die römi­schen Arbei­ter ausbeu­tete, während er in idyl­li­schem Land­haus unsterb­li­che Schrif­ten schrieb und dem abend­län­di­schen Geist hinzu­fügte, was er bis heute nicht missen will.
Bettina von Arnim reiht sich geis­tes­ge­schicht­lich ein: In dem Buch, das sie über die Garten­straße schrieb, verbrei­tete sie ein Muster, das die Deut­schen gut gelernt haben: der gute König habe nichts gewusst von dem Bösen, das seinen Unter­ta­nen geschah, “wenn das der Führer wüsste…”: wir wollen unsere Vorur­teile über unsere Führer nicht aufge­ben, wie über unsere Väter nicht, auch über die nicht, die ihre Kinder verge­wal­ti­gen.
So liefen mir die Gedan­ken fort an dieser Mauer entlang, die so harm­los tut. Sie grenzt die Eisen­bahn ab von den Arbei­tern, die sie erbau­ten; einen Tunnel gab es, hinüber zu den Maschi­nen­fa­bri­ken der Borsig, Schwartz­kopff, Wöhlert, Stet­ti­ner Tunnel, der Eingang ist noch zu sehen, vermau­ert.
Wie ein Blitz fährt dieses Grenz­stück zwischen Mitte und Wedding über die Karte, Bernauer Straße, Garten­straße, Liesen­straße. Wo Liesen­straße und Garten­straße aufein­an­der­tref­fen und mit der Sche­ring­straße unter den Bahn­brü­cken einen Platz bilden, auf den man zwischen den Autos schwer hinüber­kommt und auf dem das klas­si­sche Blech­pis­soir vergit­tert ist wie alle solche aus dem Bedürf­nis in den Denk­mals­schutz über­wie­se­nen Instal­la­tio­nen, dort habe ich den Eindruck, am Eingang von Mitte zu stehen: ein Eisen­bahn-Eingang, früher Stet­ti­ner Bahn; 30.7.1842 erster Zug nach Ebers­walde, Alex­an­der von Humboldt fuhr mit. “Die übri­gen Fahr­gäste waren meist Verwandte, d.h. keine Bluts­ver­wandte, sondern Acti­en­ver­wandte, Acti­en­ver­wandte halten viel fester zusam­men als Bluts­ver­wandte”.
An der Liesen­straße verwan­delt sich die Eisen­bahn­mauer in eine Fried­hofs­mauer, die eine lange Reihe spit­zer Lanzen fest­hält, dahin­ter alter Domfried­hof.
Der fran­zö­si­sche Fried­hof ist beschei­de­ner einge­zäunt, nur mit Draht, aber mit festem Draht, die Tür ist ankün­di­gungs­wid­rig geschlos­sen. Hinten liegt der Grab­stein, der den zerstör­ten Grab­stein vertritt, unter dem die Reste von Fontane in der Erde liegen, wenn die nicht auch von der Granate zerstört worden sind, die den alten Stein zerstört hat.
Dann führt der Weg als Tram­pel­pfad über die Mauer­bra­che, die die histo­ri­sche Mauer hinter­las­sen hat. So komme ich zur Chaus­see­straße, ich bleibe stehen, blicke zurück über die Wiese zwischen den Fried­hö­fen und der Straße, diese Hinter­las­sen­schaft der Staats- und Welten­grenze, hinten die Bahn­brü­cke, vorne eine Kapelle, die Spitze des Kirch­turms von St. Sebas­tian rechts.
Das ist wieder ein solches Grenz­erleb­nis, ein Kultur­er­leb­nis, eine kurze Lehr­stunde: Mitten in der Groß- und Welt­stadt das Unge­ord­nete, Unge­re­gelte, Nicht­be­schil­derte, die Beweise dafür, daß unter dem Asphalt die Natur liegt; die Ewig­keit ist nicht sehr lang, die Fried­höfe bewei­sen es:
“Ange­hö­rige bitte melden”, Ablauf der Ruhe­frist, sonst Eineb­nung oder einfach Verfall. Hier werden die Toten­stät­ten restau­riert. Die Wiese will wieder Grab­feld werden.
Mir gefällt es so, wie es jetzt ist. Jetzt ist es so, wie es nicht blei­ben wird. Jetzt hat es den Charme des Zwischen­zeit­li­chen. In dem Bistro “Stadion der Welt­ju­gend”, wo ich jetzt einen Milch­kaf­fee trinke, hängt Walter Ulbricht so unkom­men­tiert an der Wand, dass die Ironie unüber­seh­bar ist.
Hier habe ich tatsäch­lich einen Blick auf das Stadion der Welt­ju­gend, das nicht mehr da ist und also auch auf die Kaser­nen, die nicht mehr da sind, vor deren Tor der Füse­lier Haber­saath stand, als Offi­ziere ihn erschos­sen im Novem­ber 1918. Auch Lili Marleen stand dort, von der — wie John Stein­beck sagt — das schönste Liebes­lied der Welt handelt, aber leider ist es nur schön, wenn Krieg ist und wenn’s Solda­ten gibt, also ist es nicht schön.
Ich suche die Boyen­straße. Erst gerate ich zum Abwas­ser-Pump­werk und zum Bundes­wehr-Kran­ken­haus. Ich stehe unter der Bewa­chungs­ka­mera. Durch­gang mit sper­ri­gen Gegen­stän­den nicht möglich, Mobil­te­le­fone verbo­ten. Der Kaser­nen­kom­man­dant.
Das war hier schon immer mili­tä­ri­sches Gelände, Sperr­be­zirk, Mili­tär- und Regie­rungs­la­za­rett, es folgen die Inva­li­den­stät­ten: den Menschen ihre Voll­stän­dig­keit nehmen und sie dann in ihrer Unvoll­stän­dig­keit auf den Bänken sitzen lassen, bis man sie mit Gepränge zum Fried­hof der Unvoll­stän­di­gen bringt: Inva­li­den­fried­hof, Helm ab zum Gebet, wenn alles zu spät ist.
Die Boyen­straße ist eine Baustelle, der Öffent­lich­keit fast verlo­ren gegan­gen. Am Ende ist Schluss, man kommt die Scharn­horst­straße nicht hinüber, durch den Park­weg am Weddin­ger Eissta­dion also bis zur Kieler Brücke, Brücke seit 1893; die jetzige Ausfüh­rung, blau und vier Jahre neu, spannt sich elegant über den Berlin-Span­dauer Schiff­fahrts­ka­nal.
Die Kieler Straße wird eine schöne Ufer­pro­mende, viel­leicht bis zum künf­ti­gen Wirt­schafts­mi­nis­te­rium, neben der Sand­krug­brü­cke. Jetzt ist sie von Bauzäu­nen abge­sperrt. Ich stehe an der Stelle, wo Wedding, Tier­gar­ten und Mitte sich gleich neben der Brücke berüh­ren. Dann gehe ich, also auf Tier­gar­te­ner Gelände, die Heide­straße hinun­ter, am Contai­ner­bahn­hof entlang.
Auf der Sand­krug­brü­cke verweile ich, blicke das Grenz­stück übers Wasser zurück und freue mich, dass hier nichts Gegen­ständ­li­ches die Grenzerleh­nisse zitiert, die hier viele hatten in jener Zeit, von der wir lang­sam aufhö­ren uns vorzu­stel­len, dass es sie gege­ben hat. Auch die Zukunft kann ich mir nicht gut vorstel­len. Oder ich kann sie mir vorstel­len und hoffe deshalb die vergeb­li­che Hoff­nung, dass alles bleibt, wie es ist. Ich lehne am Brücken­ge­län­der, zwischen den Zeiten, Verän­de­rung links, Verän­de­rung rechts, ich in Ruhe.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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