Paris — Bonn — Berlin

Grenz­gänge X

Auf diesem zehn­ten Spazier­gang an den Gren­zen des Bezirks Mitte entlang bin ich jetzt am Bran­den­bur­ger Tor ange­kom­men. Das Tor ist noch da. Man sieht es noch.
Niemals hätte ich — sagen wir: im Jahre 1986 — gedacht, dass ich das Bran­den­bur­ger Tor jemals in einer solchen Gesell­schaft sehen würde wie jetzt. Dass der Pari­ser Platz wieder werden würde wie er war, quadra­tisch wie nur ganz wenige Plätze auf der Welt, das sieht man zur Zeit nicht; das muss einem gesagt werden.

Es wird ja gesagt. Schon sieht man es. Das Adlon ist schon da, das Haus Sommer, das Haus Lieber­mann, die Dresd­ner Bank auch schon fast, die DG-Bank erhebt sich demnächst aus der Grube. Ob das die Akade­mie der Künste aushält, weiß man nicht. Viel­leicht stürzt auch ihr Rest in sich zusam­men vor so viel Wieder­her­stel­lung rechts und links.
Das wäre die Strafe dafür, dass die Akade­mi­ker auf eine Glas­fas­sade bestan­den haben und nicht gleich bereit sind, in der alten Säulen­in­sze­nie­rung zu spie­len. Irgend­wann ist hier alles wieder, wie’s mal war. Das muss einem dann aber auch gesagt werden. Denn es weiß ja keiner mehr, wie’s hier mal war.

Auch der Ex-SPD-Bause­na­tor Nagel nicht, der jetzt halb­wegs in Adlons Diens­ten steht und der wohl seiner­zeit ener­gisch gesagt hatte: Der Pari­ser Platz muss wieder werden, was er mal war. Wann war? Der Pari­ser Platz war ja schon verschie­dent­lich. Er hatte viele Vergan­gen­hei­ten.
45 Jahre war er ganz weg. Oder war das auch eine Vergan­gen­heit, die es gege­ben hat, als Berlin sich hier nicht aufge­baut hat, um aller Welt zuzu­schreien, dass es mal in Paris einmar­schiert ist, aus Rache dafür, dass Paris in Berlin einmar­schiert war?
Die Städte sind gar nicht marschiert. Immer nur die Poten­ta­ten, und die dummen Berli­ner und Pari­ser sind jeweils mitge­latscht und haben sich zu Zehn­tau­sen­den abknal­len lassen. Daran erin­nert mich der Pari­ser Platz umso deut­li­cher, je voll­stän­di­ger er wird, wie er mal war. Noch ist er eine Baustelle und ein billi­ger Souve­nier­la­den der asia­ti­schen und indi­schen Völker.

Wenn ich könnte, ich ließe den Pari­ser Platz so, wie er gerade jetzt ist, im Sommer 97, heute, als ich befürch­tete, dass es gleich regnen würde, und nicht genau wusste, wo ein passen­des Kaffee­haus ist. Daran mangelt es noch. Ich kann doch nicht ins Adlon gehen, wo die Leut­chen schon in den Korb­stüh­len sitzen, den Baggern zuschauen und den ande­ren drau­ßen sagen: Wir sind schon drin.
Eine Geschäf­tig­keit herrscht hier, die nicht so recht weiß, warum und wohin. Die Touris­ten freuen sich, dass sie Kame­ras dabei haben, da können sie sich was vor die Augen halten.

Als ich eben vor dem “Raum der Stille” stand, wo es ganz schön laut ist, sagte eine kleine Blonde zu ihrem langen Freund, der auf seinen dicken Turn­schu­hen auch etwas ratlos da stand: “Das soll das Bran­den­bur­ger Tor sein?” Das war schon fast keine Frage mehr, sondern eine Fest­stel­lung: Schon rich­tig, das soll das Tor sein, von dem damals, gleich hier, einer, der nun auch längst von der Welt­bühne verschwun­den ist, verlangte, dass man es öffnen solle, obwohl er doch zuvor meinte, dass dahin­ter das Reich des Bösen begänne. Das soll das Tor sein. Ein Impe­ra­tiv. Es ist dieses Tor nicht mehr. Eine Erin­ne­rung an sich selbst. Eiin Zitat. Die Bilder in den Geschichts­bü­chern sind echter.
Das reprä­sen­ta­tivste Gebäude auf dem Pari­ser Platz, dasje­nige, das am deut­lichs­ten vertritt, was er einmal war, ich möchte beinahe sagen: das einzige, das wirk­lich fertig ist, ist der Gebäu­de­rück­stand, den die Preu­ßi­sche Akade­mie der Künste hier hinter­las­sen hat. Man kann dane­ben durch­ge­hen, dann erreicht man, wenn die propren Wach­män­ner einen lassen, die Behren­straße, und dort gegen­über ist ein denk­wür­di­ger Fußweg wie in eine gewe­sene Schre­ber­gar­ten­ko­lo­nie.

Über diesen Weg kann man dicht an das Hügel­chen heran­kom­men, das zwischen den Bauwa­gen und all dem Bauge­rät jetzt aussieht wie nichts; man über­sieht es: Es ist der ober­ir­di­sche Rest der Reichs­kanz­lei, die letzte Meta­mor­phose des größ­ten deut­schen Reiches. Hier endete der Mörder­häupt­ling. Das ist sein Denk­mal. Da braucht man doch keine Collo­quien mehr, die neue Denk­mä­ler ersin­nen sollen.
Auch der Ort, von dem ich jetzt komme, der Mono­lith der Akade­mie der Künste, ist (noch) ein solches Denk­mal. Das ist auch der Rest eines Mörder­tem­pels. Hier, am Pari­ser Platz Nummer 4, resi­dierte der Speer, der “Gene­ral­inspek­teur für die Neuge­stal­tung der Reichs­haupt­stadt”.
“Noch im Februar (1937) forderte Hitler kurzer­hand das ehrwür­dige Gebäude der Akade­mie der Künste für meine Behörde, kurz G.B.I. genannt, frei­zu­ma­chen. Seine Wahl fiel auf dieses Gebäude, weil er dort hin, von der Öffent­lich­keit unbe­merkt, durch die dazwi­schen liegen­den Minis­ter­gär­ten gelan­gen konnte. Bald machte er von dieser Möglich­keit reichen Gebrauch.”
Der Mann, den der groß­deut­sche Mörder da besuchte und den er eben zum Profes­sor ernannt hatte, damit es besser aussah, der Profes­sor GBI, war keines­wegs nur ein Archi­tekt, den der Staats­in­ha­ber bauen ließ, was er wollte, und der sich deshalb von ihm verfüh­ren ließ, und die Verbre­chen nicht mehr sah.
Speer und seine Compa­nie — das war eine skru­pel­lose Bande von Tätern, auch wenn sie von der Art waren, von der wir selbst leicht sein können, wenn wir nicht aufpas­sen.

Wenn ich den Pari­ser Platz wieder sehen werde, wie er war, denke ich: Speer und die, die um ihn waren, haben gesiegt, das sind die Sieger, dieje­ni­gen, die fürs Zerstö­ren sorg­ten, damit sie aufbauen können, im back­stein­li­chen und im über­tra­ge­nen Sinne.
Unter diesen Tätern vom Pari­ser Platz 4 war ein späte­rer Bonner Staats­se­kre­tär und ein späte­rer Senats­bau­di­rek­tor. Der Staats­se­kre­tär war ein Ehren­mann gewe­sen in der ersten deut­schen Repu­blik, Stadt­käm­me­rer von Berlin, weit war sein Weg nicht vom Stadt­haus hier herüber: ein kurzer Weg auf dem er allen Anstand verlo­ren, aber eine große Karriere gewon­nen hat. Als er spät starb, hat der jetzige Finanz­mi­nis­ter ihm noch getra­gene Trau­er­worte gewid­met. Es wird alles so, wie es mal war. Zur rich­ti­gen Crew muss man gehö­ren.
Den Platz vor dem Bran­den­bur­ger Tor, um den die Bezirks­grenze im Halb­bo­gen herum läuft, würde ich trotz­dem “Bonner Platz” nennen. Eigent­lich ist es kein Platz. Bloß ein Plätz­chen, ein Stück­chen in der neuen deut­schen Haupt­stadt, die sich hier solche Mühe gibt, die alte zu sein. “Die Bonner Repu­blik war doch rela­tiv anstän­dig”, hörte ich neulich jeman­den sagen, der derar­ti­ges nicht gesagt hat, als es diese Bonner Repu­blik noch rich­tig gab.

Dieser Alt-Revo­lu­tio­när, der jetzt nur noch seine Rechts­an­walts-Praxis bestellt und einige anstän­dige Ehren­äm­ter versieht, für die es nicht viel gibt, meinte natür­lich nicht: der Staat von Bonn hätte blei­ben sollen wie er war, und das Bran­den­bur­ger Tor hätte Anlass blei­ben sollen, für Präsi­den­ten­zi­tate; er meinte einfach: Bonn hat seine Sache ganz gut gemacht, man hätte eine Staats­sa­che viel schlech­ter machen können: siehe Berlin; was hat denn die Haupt­stadt Berlin gemacht, als die Haupt­stadt Bonn die Deut­schen zurück­führte in den Kreis derer, vor denen die ande­ren nicht die Hände heben müssen wie vor einer Räube­rin?
Ich gehe — immer an der Bezirks­grenze entlang — die Ebert­straße südwärts. Jetzt heißt sie wieder Ebert­straße. Sie passt ihre Namen den Staats­for­men an: Kaser­nen­straße, Schul­gar­ten­straße, König­grät­zer Straße, Buda­pes­ter Straße, Sommer­straße, Fried­rich-Ebert-Straße, Hermann-Göring-Straße.
Ihr schöns­ter Name war viel­leicht der zweite, Fried­rich der Große hatte der König­li­chen Real­schule hier, vor der Stadt­mauer, einen Garten geschenkt. Inner­halb der Mauer hieß die Straße “Bran­den­bur­ger Kommu­ni­ka­tion”. Auch ein schö­ner Name. Seit 1947 wieder Ebert­straße. Auf ihr stand die Mauer, die die Welten trennte. Und Leben kostete, die verant­wor­tet werden müssen, wenn es auch in dem langen kalten Krieg nicht sehr viele sind.
Auch an der heuti­gen Ostgrenze sind in den letz­ten Jahren schon über 60 Menschen totge­schos­sen worden, las ich heute. Das soll man nicht verglei­chen? Natür­lich nicht, aber tot ist tot.

Rechts der Tier­gar­ten, links die Mauer­bra­che, die sich in eine Baustelle verwan­delt hat, auf der man täglich eine neue Vorrich­tung beob­ach­ten kann, um das alte wieder­her­zu­stel­len. Bei der inte­ri­mis­ti­schen BVG-Halte­stelle mache ich Halt und blicke mich um. Hier wird es bald gewal­tig staat­lich ausse­hen, viele Akten­köf­fer­chen werden geschäf­tig auf und ab gehen; die Grenz­schüt­zer werden uns sorg­fäl­tig beob­ach­ten, weil sie Wich­tige zu bewa­chen haben, dann wird kaum noch jemand an die Zeiten denken, in denen uns die Grenz­schüt­zer hier von rechts und links schon einmal sorg­fäl­tig beob­ach­te­ten, damit wir nur ja keine Verlet­zung bege­hen an staat­li­chen Imagi­na­tio­nen, damals der Grenze, nun der Bann­mei­len, der Para­den, der Helme-ab-zum-Gebet, der Gelöb­nisse und Ehren­for­ma­tio­nen.
Ich biege links in die Behren­straße ein, um die fens­ter­lose Seite des Adlon zu betrach­ten: die riesige Brand­mauer, die das Hotel, dem ich Gäste wünsche bis in die letzte Dach­kam­mer, zur Wilhelm­straße zeigt. Hier wird demnächst die engli­sche Botschaft stehen. Ich kann mich jetzt schon nicht mehr genau an die Wüste erin­nern, die hier lag, als man den Stein aufstellte, auf dem steht: Hier stand die engli­sche Botschaft und hier kommt sie wieder hin. Der Stein ist noch da.

Zu Hause habe ich das Buch den Viscount D’Aber­non hervor geholt, er war engli­scher Botschaf­ter nach WK I in Berlin, in der “Zeiten­wende”: “Die Behren­straße in Berlin, die der Lombard Street in London entspricht, erin­nert mich an San Fran­cisco nach dem Erdbe­ben. Fast jede Bank wird erwei­tert oder umge­baut, und man kann kaum die Straße über­que­ren. Das Ganze hat eine gewisse Ähnlich­keit mit der Seifen­blase der Südsee”. Unter dem 29. Okto­ber 1921 schrieb das der geist­rei­che Englän­der, an seinem Schreib­tisch, der hier stand, wo jetzt neben dem Adlon noch das Nichts ist. Berlin wird wieder, wie es war. Ist es schon so?

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

Foto: Gerd Danigel , ddr-fotograf.de, CC BY-SA 4.0

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