Der Hauptmann von Köpenick

Selten wohl haben die Menschen, und allen voran die Berli­ner, so einmü­tig und herz­lich, und mit so diebi­scher Freude gelacht, wie an jenem 16. Okto­ber 1906, als die erste Nach­richt von der Tat des “Haupt­manns von Köpe­nick” in die Welt ging. Der simple Schus­ter­ge­selle Wilhelm Voigt hatte in der Uniform eines Infan­te­rie-Haupt­manns den Bürger­meis­ter von Köpe­nick verhaf­tet, die Stadt­kasse “beschlag­nahmt” und war unbe­hin­dert mit seinem Raube entkom­men. Eine Tat, die ihrem Urhe­ber eigent­lich nur eine rasche Beute brin­gen sollte, die aber so ganz neben­her in grel­lem Schlag­licht den Augen der Welt jenen Geist offen­barte, dessen Tun und Denken einzig und allein unter dem Gesetz der Ehrfurcht vor der Uniform stand.

Dieser bis dahin völlig unbe­kannte Wilhelm Voigt war ein hage­rer Grau­kopf nahe den Sech­zi­gern. Er hatte fast die Hälfte seines Lebens hinter Gefäng­nis- und Zucht­haus­mau­ern zuge­bracht, ohne dass man ihn jedoch einen Verbre­cher im land­läu­fi­gen Sinne hätte nennen können. Schon als Schus­ter­lehr­ling machte er in seiner Heimat Tilsit die erste unlieb­same Bekannt­schaft mit der Poli­zei. Auf der Fußreise zu einem Verwand­ten wurde er von Gendar­men aufge­grif­fen und völlig unschul­di­ger- und unbe­rech­tig­ter­weise als Land­strei­cher behan­delt und einge­sperrt.
Das war natür­lich ein empfind­li­cher Schlag für eine unbe­schol­te­nen jungen Menschen, der sich auf diese Weise als außer­halb der mensch­li­chen Gesell­schaft stehend gebrand­markt sah. Kein Wunder also, dass er zu einer beson­de­ren Einstel­lung gegen­über der Obrig­keit kam. Jene Obrig­keit war ja eigent­lich dazu bestellt, dem Bürger Schutz und Recht zu gewäh­ren, statt dessen machte sie ihn jedoch zum Frei­wild büro­kra­ti­scher Para­gra­phen­aus­le­gun­gen. Hinzu kam, dass der nunmehr Vorbe­strafte von seinen Arbeits­ka­me­ra­den gemie­den wurde und nur selten einen rech­ten Arbeits­platz finden konnte. Gerade dadurch aber geriet er, um über­haupt leben zu können, immer wieder von neuem auf die abschüs­sige Bahn. Und fast immer waren es irgend­wel­che Behör­den, denen seine erfolg­rei­chen Schwin­de­leien galten: anfangs der Post mit gefälsch­ten Post­an­wei­sun­gen, später einer Gerichts­kasse und schließ­lich der Köpe­ni­cker Stadt­kasse. Das Haus Lange­straße 22 im Berli­ner Osten, in dem Wilhelm Voigt im Okto­ber 1906 wohnte und in dem er schließ­lich auch fest­ge­nom­men wurde, ist während des letz­ten Krie­ges dem Erdbo­den gleich­ge­macht worden. In seinen Mauern aber wurde ein Streich ausge­heckt, der das Geläch­ter der ganzen Welt auf sich zog. Von hier aus nahm ein Gesche­hen seinen Ausgang, das zu einer unver­gess­li­chen Komö­die werden sollte, wie sie nur das Leben selbst schrei­ben konnte. Sogar unser Sprach­schatz wurde hier um einen fest­ste­hen­den Begriff erwei­tert, denn der Ausdruck “Köpe­ni­ckiade” bedarf keiner weite­ren Erklä­rung.
Der künf­tige Haupt­mann hatte seinen Plan von langer Hand sorg­fäl­tig vorbe­rei­tet. Uniform und Mantel, von einem Tröd­ler beschafft, hingen zwar recht schlot­te­rig um seinen ausge­mer­gel­ten Körper. Seine Stie­fel hatten Ries­ter und schief getre­tene Absätze. Auf den zu der beab­sich­tig­ten “Amts­hand­lung” erfor­der­li­chen Helm hatte er ganz verzich­tet. Aus dem einfa­chen Grunde: er wollte sich bei seiner Wirtin mit der gros­sen Heim­schach­tel nicht beson­ders auffäl­lig bemerk­bar machen.
Mit dieser vorläu­fig noch fürsorg­lich in Zeitungs­pa­pier einge­wi­ckel­ten Herr­lich­keit zog er dann eines Tages los. In einem Gebüsch in der Jung­fern­heide klei­dete er sich um und ging zunächst nach Plöt­zen­see. Hier traf er auf eine zehn Mann starke, von einem Gefrei­ten geführte Abtei­lung Infan­te­ris­ten. Sie kam gerade vom Schieß­platz und stellte sich auf ein entspre­chen­des Kommando sofort unter seinen Befehl.
Man muss immer wieder von neuem lächeln, wenn man daran denkt, wie es in diesem Augen­blick wohl in den Gedan­ken des Schus­ters ausge­se­hen haben mag. Er selbst war nie in seinem Leben Soldat gewe­sen und stand jetzt an der Spitze einer bewaff­ne­ten Macht von zehn Mann, mit der er nun nach Köpe­nick fuhr. Wobei er sich als verständ­nis­vol­ler, auf das Wohl seiner Leute bedach­ter Vorge­setz­ter zeigte. Denn da diese noch nicht zu Mittag geges­sen hatten, verpflegte er sie vor der Abfahrt mit Würst­chen und Bier. Auch an Zigar­ren ließ er es nicht fehlen. In Köpe­nick erregte es natür­lich beträcht­li­ches Aufse­hen, als der Haupt­mann mit seinen zehn Mann vor dem Rathaus aufmar­schierte. Er ließ das Bajo­nett aufpflan­zen, ließ die beiden Eingänge durch Doppel­pos­ten beset­zen und verschwand dann mit dem Rest der Mann­schaft im Innern des Rathau­ses. Und die Köpe­ni­cker Poli­zei ging ihm dabei hilfs­be­reit zur Hand. Sie sperrte den Platz vor dem Rathaus ab und hielt die rasch zusam­men­strö­mende Menschen­menge in gebüh­ren­dem Abstand, damit die “Amts­hand­lun­gen” des Haupt­manns nicht etwa durch Unbe­fugte gestört werden konn­ten.
Indes­sen begab sich Wilhelm Voigt mit seinem Gefolge waffen­klir­rend gera­den Wegs in das Zimmer des Bürger­meis­ters. Er hielt ihm einen eben­falls vorbe­rei­te­ten Wisch unter die Nase, einen angeb­li­chen “König­li­chen Kabi­netts­be­fehl”, nach dem er leider verpflich­tet sei, den Bürger­meis­ter fest­zu­neh­men und nach Berlin zu schaf­fen.
Man kann sich ohne viel Phan­ta­sie vorstel­len, wie der Beamte von der Unge­heu­er­lich­keit dieses Vorgan­ges betrof­fen war und wie er mit allen Kräf­ten gegen ein solches Ansin­nen protes­tierte. Er war sich keiner Schuld bewusst. Das Ganze musste also ein Miss­ver­ständ­nis sein, das sich durch eine tele­fo­ni­sche Rück­spra­che sicher sehr schnell aufklä­ren lassen würde. Aber der als Haupt­mann kostü­mierte Schuh­ma­cher ließ sich auf nichts ein. Befehl sei Befehl, das müsse der Bürger­meis­ter als ehema­li­ger Offi­zier selbst wissen. Und im Hinblick auf die an der Tür postier­ten bajo­nett­be­waff­ne­ten Grena­diere blieb dem Köpe­ni­cker Stadt­ober­haupt schließ­lich nicht ande­res übrig, als sich dem Befehl der “Aller­höchs­ten Kabi­netts­ordre” zu fügen. Er konnte ledig­lich errei­chen, dass Wilhelm Voigt der Frau des Bürger­meis­ters groß­mü­tig gestat­tete, ihren so schwer geprüf­ten Mann auf der Fahrt nach Berlin zu beglei­ten.
Von einem erge­benst dienern­den Beam­ten des Köpe­ni­cker Rathau­ses ließ sich der Haupt­mann dann in das Amts­zim­mer des Haupt­kas­sen­rendan­ten führen. Auch ihm verkün­dete er seine sofor­tige Verhaf­tung und Über­füh­rung nach Berlin. Zuvor musste der Rendant jedoch noch eine kleine Amts­hand­lung vorneh­men: er musste seine Kasse abrech­nen. Der Kassen­be­stand von vier­tau­send Mark wurde von Voigt für “beschlag­nahmt” erklärt. Das Geld versenkte der Haupt­mann ohne jede weitere Zere­mo­nie sofort in seine Hosen­ta­sche.
Das dritte Opfer dieser Verhaf­tungs­welle war der Poli­zei­in­spek­tor. Er wurde jedoch gnädig wieder frei­ge­las­sen, nach­dem Voigt einige Pass­for­mu­lare “beschlag­nahmt” hatte. Inzwi­schen hatte Voigt drei Drosch­ken beor­dert, die nun ange­sichts einer stau­nen­den Menschen­menge in Rich­tung Berlin davon­fuh­ren. In der ersten saßen der Bürger­meis­ter mit seiner Frau und zwei Solda­ten als Bewa­chung. In der zwei­ten folgte der Haupt­kas­sen­rendant, eben­falls von zwei Mann mit aufge­pflanztein Bajo­nett bewacht. Den drit­ten Wagen erhielt der Gefreite als Führer des Trans­por­tes. Gleich­zei­tig hatte er den Auftrag, die Gefan­ge­nen in Berlin auf der Neuen Wache Unter den Linden abzu­lie­fern.

Und alles gehorchte. Alles klappte wie am Schnür­chen. Die Uniform mit dem silber­nen Porte­pee, dazu das sichere Auftre­ten des Schus­ters hatten alle Köpfe bene­belt. Die Über­rum­pe­lung gelang so voll­kom­men, dass niemand auf die gera­dezu ins Auge sprin­gen­den Mängel achtete. Niemand fragte nach dem fehlen­den Helm, niemand sah die ausge­latsch­ten Schuhe, niemand wunderte sich über den fast sech­zig­jäh­ri­gen Haupt­mann. Der Schus­ter­ge­selle Wilhelm Voigt hatte eine ganze Stadt­ver­wal­tung vom Bürger­meis­ter bis hinun­ter zum letz­ten Gendarm auf der Straße derart ins Bocks­horn gejagt, dass er mit ihnen machen konnte, was er wollte.
Er selbst begab sich nach diesem Siege zum Bahn­hof, um seinen Raub unbe­hel­ligt in Sicher­heit zu brin­gen.

Nach seinem Abgang wurden natür­lich die im Rathaus zurück­ge­blie­be­nen Solda­ten ausge­fragt. Tele­fon­ge­sprä­che flogen hin und her, und es dauerte nicht lange, da war der Schwin­del offen­bar. Als die drei Wagen vor der Neuen Wache Unter den Linden eintra­fen, wusste man dort schon Bescheid, so dass die “Verhaf­te­ten” sofort wieder nach Hause geschickt werden konn­ten. Nun begann eine fieber­hafte Suche nach dem falschen Haupt­mann. Von der Poli­zei wurde eine Beloh­nung in der unge­wöhn­li­chen Höhe von zwei­tau­send Mark ausge­setzt. Die tägli­chen Nach­rich­ten über den Stand der Dinge wurden von Millio­nen Menschen in der Welt verfolgt. An allen Ecken und Enden der Stadt wollte man den Gesuch­ten gese­hen haben. Voigt stand häufig genug selbst vor seinem Steck­brief an den Anschlag­säu­len und unter­hielt sich, ohne erkannt zu werden, mit dem Publi­kum über die Möglich­keit seiner eige­nen Fest­nahme. Und als diese dann tatsäch­lich erfolgte, wurde sie der Bevöl­ke­rung durch Extra­blät­ter bekannt­ge­ge­ben.

Für Wilhelm Voigt aber begann damit wohl die schönste und sorg­lo­seste Zeit seines bis dahin mehr als kümmer­li­chen Lebens. Nie zuvor hatte ein Unter­su­chungs­ge­fan­ge­ner so viele Sendun­gen mit Geld, Lebens­mit­teln und Blumen, Scho­ko­lade und Zigar­ren erhal­ten. Unge­zählte Briefe von Menschen aller Kreise und aus allen Gauen mit den verlo­ckends­ten Ange­bo­ten aller Art gingen bei ihm ein. Und als es wenig später in Moabit zur Verhand­lung kam, konnte der Gerichts­saal die Menge der Neugie­ri­gen nicht fassen. Von weit und breit kamen die Menschen herbei­ge­strömt, um den schon fast sagen­haft gewor­de­nen “Haupt­mann” von Ange­sicht zu Ange­sicht zu sehen. Nach dem Gesetz musste er natür­lich verur­teilt werden. Trotz­dem waren damals viele Menschen der Meinung, dass seine unglaub­lich kecke Tat eigent­lich eher eine Beloh­nung verdient hätte. Aber auch während der vier Jahre Gefäng­nis, die man ihm schließ­lich zudik­tierte, ließ die allge­meine Fürsorge für ihn nicht nach, so dass er bis an sein Lebens­ende ein sorgen­freies Dasein führen konnte. Der Schel­men­streich aber, mit dem er den Menschen das große, befrei­ende Lachen geschenkt hatte, ging in die Geschichte der Stadt ein. Der Name Wilhelm Voigt hat heute sogar im Brock­haus seinen Platz.
Bekannt­lich aber braucht sich der, der den Scha­den hat, um den Spott nicht zu sorgen. So erging es denn auch jenen, auf deren Kosten dieses Lachen durch die Welt ging. Köpe­nick und die Männer seines Rates waren damals ein dank­ba­res Objekt für Kari­ka­tu­ris­ten und Humo­ris­ten und manche Feder wetzte sich an ihnen. Das ging so weit, dass der Köpe­ni­cker Magis­trat einmal sogar allen Erns­tes die Nach­richt demen­tie­ren musste, er habe die Absicht, den Namen der Stadt zu ändern. Manche Witz­blät­ter gaben ganze Extra­n­um­mern heraus, die ausschließ­lich dem “Haupt­mann von Köpe­nick” und seiner glorio­sen Tat gewid­met waren. Der Münche­ner “Simpli­zis­si­mus” brachte dabei ein Bild, das die Verneh­mung der zehn Grena­diere zeigt, wobei diese vom Rich­ter gefragt werden:
“Ist Ihnen denn an dem falschen Haupt­mann nichts aufge­fal­len?”
“Doch”, kam es prompt als Antwort zurück, “er war so anstän­dig. Nicht ein einzi­ges Mal hat er mit uns geschimpft.”

Ernst Grau

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1 Kommentar

  1. Dat jab et nur en mal in Berlin und 400 Mark war ne menge jeld, zu dieser Zeit hat der Liter Bier en sech­ser jekos­tet. 5 Pfen­nije

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