Grenzgänge XI
Mit Blick auf den Ort, der vor einem halben Jahrhundert Großdeutschlands letzte Metamorphose zeigte und jetzt noch einen hügeligen Rest davon, bin ich bei meinem letzten Spaziergang an der Bus-Haltestelle Ebertstraße stehen geblieben.
Als ich mich heute dort einfinde, um meine Grenzgänge zu beschließen, hat sich hier — das könnte gar nicht besser passen — der Cirque du Soleil eingefunden. Die vier Hauptmasten stehen schon, breiträumig verseilt, die Stahltrossen kreuzen und überschneiden sich zu einem filigranen Netz, das den Sommerhimmel einteilt.
Neben dem hohen weißen Wagen, der die Supervisors beherbegt und die Kassen, die erst morgen öffnen, stehe ich am Hillka-Drahtzaun und sehe den Zirkusarbeitern zu, den Zeltmachern: hohe Spezialisten, junge Männer, denen das Herz nach Welt ist, sie arbeiten mit sichtbarer Präzision, gebündeltem Eifer und ruhiger Schnelligkeit, stemmen — ihr bisheriges Werk beobachtend — die Arme in die Hüften, kreuzen sie vor der Brust, treten ein Stück zurück, blinzeln die Augen zusammen, um konzentriert zu blicken, schauen nach oben, nach unten: Etwas soll in die Höhe, der metallene Zeltkranz, die Zeltplanen, die der Maniscoper bringt.
Sie scheinen sich selbst bei der Arbeit zuzusehen, unsichtbar arbeitet eine Kraft mit ihnen, der Geist des Zirkus, der Schaustellung. Der arbeitet so schnell, dass ich — wenn ich nicht schon hier stünde — fast befürchtete, zu spät zu kommen.
Wenn ich mich umdrehe, auf die Baustellen von Debis und Sony blicke und die Kräne zähle, dann ist, wenn ich bei 20 bin, das Zelt bereits aufgegangen: Der eben noch ganz technische Anblick ist buchstäblich in Windeseile zu einem luftigen Kunstanblick geworden: Von der Technik zur Ästhetik, das Traum- und Sonnenhafte erhebt sich über dem Eisernen-Stählernen und lässt die Materialien hinter sich.
Das wäre etwas für ihn, denke ich, indem ich die Straßenseite wechsele, um mich im und in Tiergarten auf eine Bank zu Füßen Goethes zu setzen. Wie kann man aber, beim Anblick eines Denkmals, auf dem geschrieben steht “Goethe” an Goethe denken?
Hier steht am Sockel: “Goethe errichtet 1880”: Der Goldschnitt-Goethe, der Bücherschrank-Goethe, der drei berühmte Gedichte geschrieben hat, von denen die Leute mit Abitur die ersten anderthalb Zeilen kennen.
Der Mann bickt nach Osten, in eine unbestimmte Weite. Er hat nichts von dem gesehen, was hier seit 1880 geschehen ist. Wo der Zirkus gleich sein Zelt auffalten wird, da war der Garten des Reichspräsidenten. Von dieser Sorte gab es — wenn wir Hitler und Dönitz weglassen — nur zwei. Nach dem ersten hieß die Straße, auf die Goethe hier blickt, der andere hieß Hindenburg: Ein Menschen-Schlächter, der sich dadurch, dass er die Männer des Volkes zu Hunderttausenden umbrachte, dafür qualifizierte, von ihren Witwen, Kindern und überlebenden Verwandten zum Präsidenten gewählt zu werden.
“Privatgelände. Betreten verboten. Schutt abladen verboten” schreibt das Bundes-Vermögensamt auch vor den Ort, an dem Hitler hervorkroch aus seiner letzten Unterwelt, um sich das Leben von Kindern mit Blechkreuzen zu kaufen, dicht standen sie neben dem Sonnenzirkus, die Augen leuchteten.
Hinter Gorthe dagegen Wiesen; das Gartenbauamt Tiergarten beschreibt sie auf ausführlichen Schildern als Lang-Gras-Wiesen: “Schmetterlinge, Vögel und viele andere Tiere finden hier Lebensstätten… Lang-Gras-Wiesen sind sehr empfindlich gegen Betreten, Befahren und Lagern.”
Tiergarten: Wiesengarten. Mitte: Geschichtsgarten. Die Weltengrenze, die hier verlief, verwächst sich, gerade hat der Senat von Berlin beschlossen, dass das demnächst nicht einmal die Grenze zwischen zwei Stadtbezirken sein soll, überhaupt keine Grenze mehr.
Eine hohe Stufe (oder eine tiefe) zwischen dem Empfindungen gab es hier mindestens seit den Zeiten, in denen der Außenminister Walter Rathenau nur einen kurzen Gang zu machen brauchte, vom Garten seines Ministeriums zum Garten seiner Mutter in der Bellevuestraße.
Eine Empfindungs-Einheit bildet die Stadt und der schöne Garten nach Charlottenburg zu vielleicht gerade noch, als Felix Mendelssohn dort hinten, wo jetzt das Abgeordnetenhaus Ferien macht, das Zauberstück schrieb, das die Deutchen dann nicht mehr hören wollten: Sommernachtstraum, Ouvertüre.
“Hier arbeiten Streikbrecher” steht am Bauwagen von Louis Lohde Wasserversorgung und später: “Dieser Betrieb wird bestreikt”, das zieht mich wieder hoch aus der Zeitenspalte, in die ich eben gerutscht war.
Ich bin wieder mitten in der Baustelle, achtzehn Kräne sehen von hier so aus, als ließen sie schwere Kugeln auf die Erde fallen, um ihre Beständigkeit zu prüfen. Sie hält. Die Erde hält.
Im ersten Alt-Haus an der Stresemannstraße dokumentiert Cityscope die “fortlaufende Entwicklung des Potsdamer Platzes im Internet” und vermittelt “die Komplexität des urbanen Wandels in zeitgenössischer und transparenter Form”.
Da komme ich mit meinem Schreibstift nicht mit, und Resignation würde mich erfassen, wenn die Internetler nicht abschließend schrieben: “zu kaufen nebenan im Restorante Romagne”. Diese altertümliche Form der Nachbarschafts-Kommunikation sagt mir immerhin, dass es auch meine Welt noch gibt.
Damit biege ich in die Niederkirchnerstraße ein, wo ich im Februar bei Schnee und Regen meinen Spaziergang um den ganzen Bezirk Mitte begonnen habe.
Das Ende hat den Anfang gefunden.
Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)
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