Taubenstraße von Ost nach West

E.T.A. Hoffmann

Stadt­mitte heraus, ich kam mit der U2, da wäre ich mit weni­gen Schrit­ten schon mitten auf der Tauben­straße, aber der Beginn ist entwe­der im Westen oder im Osten; die Tauben­straße fängt heute bei Schlei­er­ma­cher an; das Pfarr­haus der evan­ge­li­schen Kirchen­ge­meinde am Fried­richs­wer­der, ocker­gelb, aus einer ganz ande­ren Geschichts­zeit als seine Nach­barn, war sieben Jahre lang das Wohn­haus Schlei­er­ma­chers.
Aber Schlei­er­ma­cher gehört längst nicht mehr hier­her. Die Tauben­straße ist keine Umge­bung für Fried­rich Schlei­er­ma­cher, wo ist über­haupt für ihn heute eine Umge­bung?
Der Theo­loge, Patriot, Helle­nen-Trans­por­teur ruht in der Geschichte, er spielt keine aktu­elle Rolle, die Gedenk­ta­fel leis­tet nichts, fast ließe sich sagen: sie lügt.

Für die evan­ge­li­sche Gemeinde heißt die Straße noch nach dem Altpo­li­ti­ker Johan­nes Dieck­mann, Block­flöte, Block­flö­ten­vier­tel, vorbei, auch vorbei, von der Gegen­wart der Straße gehört kaum noch etwas der DDR. “Was hier Verfall ist, ist DDR”, sagte einer. Da zucke ich die Achseln. Das Neue, Unklare, Post­mo­derne, Zu-Vermu­tende — das wäre die BRD neu, das wenige Alte, Geschlos­sene, Abblät­ternde — DDR? Es gibt Deutsch­lands davor. Die Epochen der Geschichte sind nicht so klar geschie­de­nen, wie die Mauer hüben und drüben schied.
An der Mauer­straße beginnt die Tauben­straße mit dem Arbeits­mi­nis­te­rium, zu dessen abwei­sen­der Front der Stra­ßen­name passt. An diesem Sonn­abend-Nach­mit­tag: ein paar Autos, nicht viele, hin und her, wenige Menschen, die Straße beginnt nicht in einer Mitte.
Ist das jetzt Vorspiel, Ruhe vor dem Metro­po­len­sturm? Es sind doch alles Büro­häu­ser; das eine Haus aus dieser, das andere aus jener Zeit, die Straße verläuft in einer imagi­nä­ren Zeit. Das Stück­chen Schau­spiel­haus, das man von hier aus sieht, wirkt unzu­ge­hö­rig, aufge­stellt wie das Schloss oder die Bauaka­de­mie aus Bühnen­de­ko­ra­tio­nen, Gaze, Papp­ma­ché. Neben Schlei­er­ma­chers das soge­nannte Zürich­haus; das bis auf die Straße reichende Plakat “Boden­see-Land­schaf­ten” mit einem urwüch­sig bärti­gen schwei­zer Hand­wer­ker auf dem Arbeits­wege wirkt deplat­ziert.

“Büro­flä­chen zu vermie­ten. Nur noch 4. OG frei”: In diesem “Nur-noch-Stil” wird jetzt über­all in Berlin um Mieter gewor­ben, damit die Zinsen bezahlt werden können.
Gegen­über Nr. 46 “Geis­tes­wis­sen­schaft­li­ches Zentrum”, auf diesen Inhalt käme man von selbst nicht; die HU-Insti­tute sind mit dicken Gittern verschlos­sen, das Haus sieht am Sams­tag geheim aus. Abwei­sen­des Zusper­ren hat man in der Haupt­stadt gern, das Wach­per­so­nal, die Schran­ken: “Suchen Sie wen?” — das ist hier nicht unbe­dingt eine Frage freund­li­cher Hilfs­be­reit­schaft. Bewacht­wer­den — ein Status­sym­bol, Vorfah­ren im gepan­zer­ten Merce­des und ein ande­rer hinter­her, aus dem die jungen Poli­zis­ten hüpfen, wenn ange­hal­ten wird für das Inter­view, das nur im Fern­se­hen öffent­lich ist und hinter dessen Popu­lis­men man schnell entschlüpft auf ein lächeln­des Zeitungs­foto, beide Hände in den lässi­gen Taschen. n‑tv in der Stadt­burg aus Imitat-Renais­sance bewacht sich nach Stasi- und Grenz­schutz­art mit Video­ka­me­ras. Die glatt geschlif­fene Fassade der DKB Deut­schen Kredit­bank versen­det eine Anmu­tung von Kaserne, das Minis­te­rium von Frau Nolte auch, die müden Fahnen sind schmut­zig vom Baustaub der Deut­schen Treu­hand­ge­sell­schaft, deren Fassade noch hinter Gerüs­ten verbor­gen ist, das Compu­ter­bild auf dem Bauschild verheißt nichts Gutes, der Archi­tekt ist einer von denen, die in den Maga­zi­nen leicht eine bessere Figur machen, als in den Städ­ten.

Dage­gen ist die Nr. 10 von 1906 eine Oho-und-Aha-Haus; das Alte, Übrig­ge­blie­bene wird — und wenn es auch noch so sehr etwas Nach­ge­mach­tes ist — allein deshalb als schön empfun­den. Das ästhe­ti­sche Alltags­ge­fühl protes­tiert gegen die Gegen­wart, kein gutes Zeichen für die Zukunft. Die beiden nack­ten Menschen, die an der Fassade der Kredit­an­stalt für Wieder­auf­bau ohne sicht­bare Anstren­gung den nutz­los klei­nen Zier­bal­kon tragen, wenden den Blick ab und verde­cken die Augen.
Im Eckhaus dane­ben: “Versamm­lung von Chris­ten”, jeden Diens­tag Vier­tel nach 8 abends: “Wort­be­trach­tung”: ein verfüh­re­ri­sches Wort aus Gegen­sätz­lich­keit. Damit gehe ich schnell über die Fried­rich­straße, längst noch keine Groß­stadt-Einkaufs­straße, aber doch beleb­ter als die Quer­stra­ßen, bald hinter den post­mo­der­nen “Quar­tie­ren” links und rechts, kann ich die Menschen wieder an den Händen zählen; in dem bunten“Veneziana”, wo es Glas und Masken aus der versin­ken­den Stadt am Meer gibt, sitzt die Verkäu­fe­rin müde, keine Kunden, gele­gent­lich Schau­fens­ter­be­trach­ter.

Da bin ich — noch immer “Wort­be­trach­tung” denkend — bei Nummer 31, dem Eckhaus. Als ich von der Tauben- zur Char­lot­ten­straße über den Innen­hof, der zur Musik­schule gehört, hindurch gegan­gen bin und die Anschrif­ten der Mieter (vom Konzert­haus Berlin bis zur RIAS-Big-Band) notiere und die Inschrift auf dem gold­ge­putz­ten Gedenk­schild von 1890, hält ein Poli­zei­wa­gen neben mir, die Beam­ten beob­ach­ten sorg­fäl­tig, was ich tue, einer klopft unge­dul­dig aufs Türblech.
Das goldene Schild erin­nert an Hoff­mann, hier­orts, heißt es, habe er gewohnt: Dann wäre dies hier eines von Deutsch­lands tolls­ten Wort­be­trach­tungs-Häusern, oben hat er geses­sen, ster­bend herun­ter geblickt und “Des Vetters Eckfens­ter” diktiert.
Ach nein, ach nicht. Dies war das Haus nicht. Es stand aller­dings ein Haus an dieser Stelle, in dem hat der große E.T.A. gewohnt, hat gese­hen, was wir hier nicht mehr sehen, jetzt nicht und demnächst nicht. E.T.A. Hoff­mann ist Lite­ra­tur, nicht verdor­ben durch Schule und Kultur­mi­nis­ter­kon­fe­ren­zen, lesbar, die Stadt, die dort Berlin heißt, ist aber nicht dieses Berlin, der Gendar­men­markt im Text ist nicht der, auf dem gerade ein phil­ip­pi­ni­scher Frau­en­chor mit Elek­tro­ver­stär­kung ein merk­wür­di­ges Potpourri singt.
Endlich ist man was los auf dem Gendar­men­markt. Sehr viele Leute sinds trotz­dem nicht da. Hollän­di­sche Touris­ten blei­ben gelang­weilt im halten­den Bus sitzen, zum Ausstei­gen nicht genug Sensa­tion.

Die Tauben­straße führt wie die Jäger­straße direkt über den Platz, zwischen den Bauwer­ken, die die post­mo­derne Erneue­rung, hinten wie vorne, in die ästhe­ti­sche Belie­big­keit verwei­sen.
Auf der östli­chen Seite der Tauben­straße, zwischen Gendar­men­markt und Haus­vog­tei­platz, entsteht das zweite und viel bedeu­ten­dere Medien-Unter­neh­men dieser Straße, Sat 1, viel verspre­chend neben dem “Preus­si­schen Kontor­haus”, das — wie Roland Ernsts Gendar­men­markt-Karree gegen­über — heftig Mieter oder Käufer sucht, die der Hambur­ger Hypo Gesell­schaft leis­ten. Auch aus Sat 1 werden die Nach­rich­ten und die Fairy-Tales ausstei­gen in die verbrei­ten­den Lüfte, drau­ßen von der Tauben­straße sieht man nichts davon, gele­gent­lich ein paar Köffer­chen­trä­ger hinein und hinaus, die beiden gepan­zer­ten Merce­des halten hier manch­mal, streng blicken die Portiers. Hauvog­tei­platz hinab, mit der U‑Bahn unter dem Platz hindurch und fort.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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