Als die beiden vorausgehenden Texte (Jägerstraße und Taubenstraße von Ost nach West) in den Zeitungen erschienen, haben sie manchen nicht gefallen. “Sie wollen uns doch nur schlecht machen … wahrscheinlich sind Sie in der NSDAP-Nachfolgepartei CDU … Nur ausspucken kann man vor Ihnen.” Naja, dazu kann man nichts sagen. Da ist einer aus der Zeit ausgetreten und hat sie vorüberziehen lassen, nun wundert er sich, dass sie weg ist und ruft ihr ein entschlossenes “Halt!” hinterdrein. In gewissem Sinne geht es uns allen so. Weil wir Wesen aus Zeit sind. Ein ganz anderer Leser schrieb mir: “Traurig. traurig” und meinte es gerade umgekehrt. Habe ich mich über Tauben- und Jägerstraße ganz missverständlich ausgedrückt, zu niederdrückend, nicht recht erhebend? Fast einen ganzen Tag habe ich vorgestern dort verbracht, um diese Frage zu beantworten. Ich kam vom Friedhof am Mehringdamm. Auf Hoffmanns Grab lag eine weiße Schleife, goldfarben bedruckt: “Unserem E.T.A.H. / zum 175. Todestag”. Wer gebraucht hier, überlege ich mir auf dem Weg zum U‑Bahnhof Hallesches Tor, in Bezug auf Hoffmann das besitzanzeigende Fürwort, da er uns doch allen gehört, sofern wir ihn nur lesen? Ich bin jetzt auf dem Weg zu seinem Wohn- und Sterbehaus. Französische Straße steige ich aus em Untergrund hervor, da stehe ich mitten auf der Friedrichstraße, blicke nach Norden und Süden. Die Friedrichstraße ist wieder eine Straße, nicht nur die Erinnerung an eine Straße wie Jahrzehnte lang.
Die Blumenverkäuferin hier ist ein ganz hübsches Mädchen, strebend nach höherer Kultur des Geistes; sowie sie der Handel nicht beschäftigt, liest sie. Ein lesendes Blumenmädchen ist für einen belletristischen Autor ein unwiderstehlicher Anblick. Ich fasste mir ein Herz, trat heran, fragte: Was lesen Sie denn da, mein schönes Kind? Alle Himmel, es war wirklich ein Werklein von mir. “Wie gefällt Ihnen das Buch?” “O das ist ein ganz schnakisches Buch, bald muss man lachen, bald ist einem weinerlich zumute.” “Hier mein süßer Engel”, lispelte ich, “steht der Autor dieses Buches vor ihnen.” Sie starrte mich sprachlos an, mit großen Augen und offenem Munde.
Ich suchte ihr auf alle mögliche Weise die Identität mit dem Verfasser des Buches darzutun. Nichts entschlüpfte ihren Lippen als “Hm-so‑I das wäre-wie”. Das Mädchen fand sich, hatte niemals daran gedacht, dass die Bücher, welche sie liest, zuvor geschrieben werden müssen. Es kam der fromme kindliche Glaube an Licht dass der liebe Gott die Bücher wachsen lasse wie die Pilze.
Da war ich auf dem Gendarmenmarkt, Anfang Juni 1822.
Ich war bei Möhring, betrachtete, wie an der französischen Kirche ein Arrangement aufgebaut wird, für jemanden, der heute Abend hier Gäste empfangen will, vielleicht wird er, hoffe ich, hinaufzeigen zu dem Hoffmann-Fenster und sagen: Dort, dort oben. Der Gendarmenmarkt wird als Adresse immer beliebter. Man fängt wieder an, seinen Freunden und jenen, die es werden wollen, zu sagen: “Morgen auf dem Gendarmenmarkt…”
Auf der gegenüber liegenden Straßenseite folge ich in angemessenem Abstand einer Touristengruppe, die sich von einem Weißbejackten die historischen Orte erklären lässt. Jetzt stehen sie vor der Jägerstraße 54. Der Stadthistoriker wird jetzt über Rahel Levin reden.
Ich gehe in das Haus zu dem Geldautomaten. Als ich meine Karte eingeschoben habe, verkündet er mir: “Ihr Wunsch wird bearbeitet”. Welch eine Verheißung … Einmal dabei sein, im Dachgeschoss oben, während Rahel mit Wilhelm von Humboldt spricht … nein, von dem will ich nichts wissen, aber von Alexander, dem hier in der Jägerstraße Geborenen, Rahel fragt ihn nach Aimée, seinem Freund, den die Sehnsucht zurückgezogen hat in die grünglänzenden Wälder. Über dem bin ich nun in der Höhe von Sat1, dessen Produkte — wie jener Leser schrieb — ich nicht hätte Medienfastfood nennen sollen. Da überfällt mich geradezu die Vorstellung, dass Sat1 mit seinen Rohren und Schüsseln hier schon gewesen wäre, als die Barrikade hier stand. Im Nu bin ich durchgesaust durch den Zeittunnel, stehe zurückgedrückt in der Toreinfahrt, gegenüber der Belgischen Botschaft.
“Die Barrikade an der Jägerstraße wurde alsbald von ihrer Besatzung verlassen. Nur zwei Leute in Handwerkertracht erwarteten furchtlos den Feind. Der Ältere, der 19-jährige Schlossergeselle Glasewald, feuerte, erhielt aber sofort einen Schuss, der ihm den Arm zerschmetterte. Die Barrikade hatte jetzt nur noch einen Verteidiger, den Schlosserlehrling Ernst Zinna (17). Das Militär rückte heran, der Knabe stürzte aus der Barrikade hervor, sogleich entladen sich 6 oder 8 Gewehre auf den kühnen Knaben, der, sich gewandt bückend, dem fast sicheren Tode glücklich entgeht. Er raffte nun drei Pflastersteine auf und schleudert sie den nach der Taubenstraße vordringenden Soldaten entgegen. Von den vielen Kugeln, die man nun auf ihn abfeuerte, hat ihn eine erreicht. Er bedeckte die heftig blutende Wunde des Unterleibs mit seinen Händen, und flüchtete sich in die geöffnete Haustür, unerschrocken, kein Anzeichen des physischen Schmerzens in seinen Zügen. Bald darauf verschied er.”
Das war hier am 18. März 1848. Jener Lehrling Ernst Zinna, wohnhaft Jägerstraße 4 bei Leining, ist einer von denen, nach denen die BVV Mitte den Platz vor dem Brandenburger Tor jetzt benennen will. Der Text, aus dem ich ihn eben hervorgeholt habe, ist aus einem Buch, das mir teuer ist. Es heißt: Der Vorkampf. Erschienen 1914. In diesem Jahr hat das Exemplar, das ich besitze, mein Vater in Jena/Thüringen gekauft. Da war er fast so alt wie jener Zinna. Es war das Jahr, in dem man ihn zum ersten Mal in einen Weltkrieg schickte. Nicht Hölderlin hatte er im Tornister, sondern von Mieses die “Schachmeisterpartien” und dieses Buch. Am 18. Juni 1918 hat er es im Marinelazarett in Brügge ausgelesen, was er auf dem Innendeckel vermerkt hat. Wenige Stellen hat er angestrichen; in dem obigen Stück die Wortteile ‑geselle und ‑lehrling, denn er stammte aus einem Handwerkerhaus. Und dann folgende Sätze: “Heldentum ist eine wundervolle Sache, … aber es muss echt sein. Und zur Echtheit, auch in diesen Dingen, gehört Sinn und Verstand. Fehlt das, so habe ich dem Heldentume gegenüber sehr gemischte Gefühle”. Von Fontane, 150 Jahre alt.
Neben mir bei Möhring nehmen drei kurzgeschorene Jungmänner Platz, goldene Ringe im Ohr, durch Handy beschreiben sie ihren Mietzen — wie sie sich ausdrücken — ihren gegenwärtigen Standort. “Wir sind hier … wie heißtn das hier … ja, Gendarmenmarkt. Gleich beim Lafayette rechts rum … bis gleiheich, alles klar, okidoki.” Zur Zeit bin ich Unteroffiziersanwärter, erzählt einer der Jungmänner, wahrscheinlich lande ich beim Panzerkorps. Er macht eine Spezialausbildung, sagt er, schießen geht jetzt ganz leicht, ich stelle die Entfernung ein, drücke den Knopf, fertig, ganz einfach. “Wir ham uns gerade über Schießübungen unterhalten”, werden die ankommenden Mädchen instruiert. “In der Bundeswehr sind drei Sachen wichtig: Material, Menschen und (die dritte hab ich vergessen). Im Krieg kommt es bloß aufs Material an.” Die Mädchen stoßen sozusagen quittierend ein paar kurze hohe Töne aus. Hochmütig sprechen sie mit der Serviererin. Ich sehe zu Hoffmanns Fenster hinauf, “Ja, Vetter”, rief er mit einer Stimme, die mein Innerstes … mit herzzerschneidender Wehmut erfüllte: “Et si male nunc, non olim sic erit”. Wenn es jetzt auch schlecht geht, wird es einmal doch besser werden.
Jetzt sind wir aber beim Besserwerden, sagt am Abend meine Lebensfreundin, als ich ihr meinen dramatischen Tag zwischen Tauben- und Jägerstraße erzählte. Oder? Ich dachte an den Leser, der vor mir nur ausspucken kann. Der ist das vielleicht anderer Meinung. Aber: “Sein Geist zieht sich in seine Klause zurück.”
Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)
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