Salvisberg bunt, Stelling tot

Die Wirk­lichkeit verläuft nicht auf einer einzi­gen Ebene. Viele halten die Zeit für eine Platt­form der Exis­tenz; aber die Zeit, die sie meinen, rich­tet sich nach nume­ri­schen Jahren und benann­ten Tagen: das ist ein Konstrukt, ein theo­re­ti­sches System. Während ich den Stel­ling­damm ostwärts gehe, um das von zwei Rund­bo­gen­häu­sern gebil­dete Eingangs­tor zur Garten­stadt Elsen­grund zu errei­chen, bewege ich mich durch mindes­tens zwei Geschich­ten.
Die eine Geschichte ist wirt­schafts­his­to­ri­scher Art. Mehr aus Zufall als aus syste­ma­ti­scher Absicht habe ich in den letz­ten Wochen acht berühmte Berli­ner Beispiele des “neuen Wohn­baus” betrach­tet, von Messel, Mebes, March, Taut und ande­ren. Das Kapi­tal wandert dahin, wo die Zukunft liegt. Sagte Ende der 20er Jahre der SPD-Stadt­rat Martin Wagner: “Das Kapi­tal liebt Berlin”. Da war der Wunsch der Vater des Gedan­kens. Für den Wohnungs­bau in Berlin war viel­mehr das Jahr 1924 ein entschei­den­des Datum. Mit der Einfüh­rung der Haus­zins­steuer flos­sen dem Wohnungs­bau Mittel zu, die das “Kapi­tal” durch­aus nicht in ausrei­chen­der Menge herbei­ge­schafft hatte.

Die berühm­ten, bekann­ten Garten­städte, Garten­vor­städte, gemein­nüt­zi­gen Sied­lun­gen entstan­den Ende der 20er Jahre. Dieje­ni­gen, die von 1918 bis 1924 erschie­nen, sind mit der Nost­al­gie der Vor-Geschichte zu betrach­ten. In diese Rubrik gehört die Sied­lung am Elsen­grund von 1921. Der Archi­tekt hieß Otto Rudolf Salvis­berg, ein Schwei­zer, er hat weiter hinten, in der Mittel­heide, und an ande­ren promi­nen­ten Stel­len von Berlin andere bekann­tere Bauten hinter­las­sen.
Hier im Elsen­grund war er sozu­sa­gen am Anfang. Wenn man heute hinkommt, ist’s einem ziem­lich wurscht, ob die Häuser von 1921 oder von 1928 sind. Die Geschichte hat unter­des­sen andere Epochen gebil­det. Als ich nun ein Weil­chen auf der Bank am Essen­platz sitze, den Gedenk­stein im Rücken, habe ich das Inter­esse an der Geschichte des Wohnungs­baus, worüber ich früher, als ich noch Boden­recht lehrte, so gerne sprach, fast ganz verlo­ren. Das Thema hat keine Aktua­li­tät jenseits der Spezia­li­tät. Die ganze Garten­stadt­be­we­gung (falls man diese Sied­lung darun­ter zählen will) war ein Irrtum.
Aber dass ich hier nicht wohnen möchte, in Berlin und Nicht­ber­lin, gibt mir nicht das Recht, solche sozi­al­ar­chi­tek­to­ni­schen Entwürfe von klei­nen Häusern mit klei­nen Gärten, diese Dicht­nach­bar­schaf­ten, zu verwer­fen oder auch nur zu kriti­sie­ren. Ich will Stadt, Wohn­be­zirke, in denen man sich verste­cken kann, in denen man tatsäch­lich eine Chance hätte, hätte man eine Wohnung mit zwei Ausgän­gen, nach Bertolt Brechts Rezept.

Da bin ich — nun durch die Jani­tzky- und Schmaus­straße gehend — schon in der zwei­ten Geschichte, die diese Stadt­ge­gend mir erzählt. Der Stel­ling­damm heißt nach Johan­nes Stel­ling, SPD, vormals Minis­ter­prä­si­dent von Meck­len­burg-Schwe­rin, ermor­det 1933, Köpe­ni­cker Blut­wo­che; Paul von Essen, Johann und Anton Schmaus, Erich Jani­tzky, SPD, KPD, auch Blut­wo­chen-Opfer. Sollen wir auch Franz Klein und Walter Apel zu den Opfern dieser bluti­gen Köpe­ni­cker Woche rech­nen? Umge­kom­men sind sie auch, getö­tet, erschos­sen. SA-Männer, die Opfer gewor­den sind, indem sie im Begriff waren, Täter zu sein. Nach ihnen hießen die heuti­gen Stra­ßen von Jani­tzky und Schmaus von 1933 bis zu den heuti­gen Namen, die von 1947 sind. Aus der Stra­ßen­be­nen­nungs­ge­schichte kann man lernen, dass Geschichte über­haupt etwas ist, das von Macht und Zeit­geist bestimmt wird. Es gibt keine objek­tive Geschichte, sondern nur eine jewei­lige.

Auf dem Gedenk­stein, vor dem ich vorhin auf dem Essen­platz geses­sen habe, steht: “Wofür sie kämpf­ten und star­ben, ist heute in der DDR Wirk­lich­keit”. Nun ist auch die DDR keine Wirk­lich­keit mehr. Wer weiß etwas über die staats­po­li­ti­schen Vorstel­lun­gen von Anton Schmaus? Wodurch unter­schei­den sie sich von denen des Franz Klein? Auch die Täter waren Leute wie du und ich, auch sie hätten hier wohnen können und haben viel­leicht hier gewohnt, in ande­ren Zeiten waren die Gedenk­ta­feln für sie. Wir müssen die Täter verant­wor­ten, ohne sie gegen die Opfer aufrech­nen zu dürfen.

Ich empfinde es fast als Erleich­te­rung, dass sie schöne, in der Mitte einen elegan­ten Bogen einschla­gende Straße, durch die ich jetzt gehe, in harm­lo­ser Land­schaft­lich­keit “Mittel­heide” heißt. Es ist eine schöne Straße. Auch mit Häusern von Salvis­berg. Die tüch­tige GSW hat viele Haus­tü­ren auf Vorschlag des kennt­nis­rei­chen, Taut-erfah­re­nen Archi­tek­ten Winfried Brenne mit einer inter­es­san­ten ocker-blau­grü­nen Farb­kom­bi­na­tion strei­chen lassen. Wie man hört, strei­tet dage­gen der Denk­mal­schutz. Als ob eine Stadt eine kunst­his­to­ri­sche Veran­stal­tung wäre. Und über­haupt: was schützt der Denk­mal­schutz? Er schützt die Geschichte vor Mobi­li­tät, Beweg­lich­keit, Gegen­wart. Eine elegante kurz­lo­ckige Frau mit Kroko­ta­sche, keine Kroko-Zier‑, sondern eine Art von Kroko-Arbeits­ta­sche, kommt die Stufen herauf, hinter denen sich die letz­ten Salvis­berg­häu­ser über die Straße erhe­ben, und eilt, an einer nun 70-jähri­gen “Ruhen­den Mutter” aus Stein vorüber, die Stufen hinab, die zur Rotkäpp­chen­straße führen.
Die Elegante sieht nicht so aus, als ob sie gerade über Erich Jani­tzky nach­dächte, an den die Tafel vorne an dem expres­sio­nis­ti­schen Eckhaus erin­nert, dessen neue Farbe die freund­li­che Brenne-Mitar­bei­te­rin, die mir Auskunft gab, rot nennt. ich könnte dieses Rot auch braun nenne, rotbraun: das wäre doch eine symbo­li­sche Farbe. Um Gottes willen: welche Vorur­teile über­fal­len mich da! Und warum soll eine elgante Kroko­ta­sche es ausschlie­ßen, bei jedem Vorüber­lau­fen an die ermor­de­ten Nach­barn zu denken. Frei­lich: Nach­barn der Groß­el­tern. Allen­falls. Die Geschichte ist geschlos­sen.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

Foto: Monika Angela Arnold, Berlin

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