Als ich nach 30 Jahren mal wieder Kontakt zu meinem Vater aufnehmen wollte, warnte mich mein Bruder: “Er hat sich nicht verändert.” Später, nach ein paar Briefen hin und her, musste ich akzeptieren, dass es wirklich so ist. Wir werden uns wohl nicht mehr wiedersehen. Wie damals hat er mir klargemacht, dass nur eine — seine — Sicht der Dinge richtig ist. Ganz anders als meine Mutter, die sehr offen ist, die andere Standpunkte und Lebenseinstellungen nicht gleich ablehnt, sondern sich interessiert zeigt. Das habe ich wohl von ihr. Wir haben begriffen, dass das Leben so viele Facetten hat und sich nicht an vorgefertigte Pläne hält, so dass man imer wieder nachsteuern muss. Es gibt so viele Situationen, in denen man eine neue Entscheidung treffen muss, die das eigene Leben wieder verändern. Wer da nur in seinen vorgefertigten Schablonen denkt, wir irgendwann nicht mehr weiterkommen. Und er verpasst auch viel.
In meinem Umkreis sehe ich sehr verschiedene Leben, das fängt schon in der eigenen Familie an. Der eine Bruder arbeitet noch immer in dem Beruf, den er etwa 1980 gelernt hat. Auch die meisten seiner Freunde kennt er noch aus dieser Zeit und die Wohnung ist noch die selbe wie zu seiner Schulzeit. Nur dass irgendwann unsere Mutter ausgezogen ist.
Der andere hat in seinem Leben mehrere Berufe ausprobiert. Der gut bezahlte Job im Edel-Hotel wurde aufgegeben, er zog in ein altes Bootshaus am Tegeler See. Einige Jahre später kaufte er mit der Freundin einen Bauernhof in Schweden, wo sie heute ein Kinderparadies betreiben und mit Apfelstrudel dealen.
Und meine Jobs sind gar nicht mehr zu zählen. Ich habe als Vorarbeiter im Sägewerk gearbeitet, als Roadie einer DDR-Rockband, in einer Druckerei, war als Journalist in Indien, als Holzpoliturverkäufer in Süddeutschland. Im Otto-Versand-Callcenter habe ich mich um ältere Damen gekümmert, hinter’m Bahnhof Zoo eher um die Herren. Ich war Aufpasser in der Jugendherberge in Rom und Hausdetektiv bei Karstadt am Hermannplatz. In Stuttgart habe ich den Cannstatter Wasen mit aufgebaut und die riesigen Wohnwagen von Zigeunern geputzt.
Kontinuität und Sicherheit sind Anker, die ich nie wirklich hatte. Genau wie mein Freund H., der sie sich sehnlichst wünscht. Doch das Leben hält sich nicht daran, es wirft ihm ständig neue Stöcke in den Weg.
Mein Punkerfreund S. bringt morgens die kleine Tochter in den Kindergarten und fährt alle paar Monate mit seiner Band durch die Welt, von Moskau über Weißwasser nach Brasilien. Auch das ist eine Form von Kontinuität.
T. ist fast 30, studiert Animation, zeichnet Storyboards für Filmproduktionen. Vor einigen Jahren noch wollte er raus in die Welt.
Das große Wort Freiheit. Schon Udo Lindenberg sang einst: “Die Bonnies und Clydes von früher, jetzt als Herr und Frau Bieder. Die Power von damals ist leider hin.” Ich weiß nicht, wann genau die Entscheidung fällt. Bei den meisten wahrscheinlich zwischen Schule und Lehre bzw. Studium, also mit 18, 20 Jahren. Wenn man einigermaßen abgenabelt ist und die Weichen für das eigene Leben stellt. Firma oder Wanderschaft? Die nicht selbst gewählte Wanderschaft ist für manche eine Qual. So versucht mein lieber Freund C. schon seit Jahren, endlich eine Festanstellung zu bekommen, landet aber doch immer wieder beim Sklavenhändler. Mein Freund J. schafft nicht mal das, ein paar Tage nach seinen Arbeitsantritten verschläft er regelmäßig und fliegt wieder raus. Beide sind erst Mitte Zwanzig, sie suchen was Festes, aber es gelingt ihnen nicht.
Es ist ja eine allgemeine Weisheit, dass man “heutzutage” nicht mehr für ein ganzes Berufsleben planen kann. Die verlangte Flexibilität bedeutet jedoch nichts anderes als Unsicherheit, denn sie wird einem ja nicht gedankt.
Auch ich bin unsicher. Drei Jahre Bürojob, gut bezahlt, das war schon nicht schlecht. Wenigstens keine Geldsorgen und für ein neues kleines Auto hat’s auch mal gereicht. Doch mir fehlte etwas, die ganze Zeit über. Als die umsatzbedingte Kündigung kam, war es auch ein bisschen eine Befreiung. Mit einem Freund eröffnete ich ein kleines Café, 12 bis 14 Stunden Arbeit täglich, sieben mal in der Woche. Es war hart, aber es war unseres — ein tolles Gefühl. Doch leider zu wenig Umsatz.
Dann wieder Taxijob, wie früher schon mal. Das ist auch keine Freiheit und er ist unglaublich mies bezahlt. Aber dieser Job hat was. Gerade in den warmen Monaten, wenn mich eine Tour mal nachts an den Stadtrand oder ins Umland geführt hat, bin ich schon oft eine halbe Stunde über Felder gelaufen oder habe mich an einen See gesetzt. Wenn ich müde werde, mache ich Feierabend. Läuft die Schicht mal gut, hänge ich ein, zwei Stunden ran. An der Taxihalte lese ich viel, quatsche mit Kollegen oder schreibe Texte für mein Blog. Am interessantesten aber sind manche Gespräche mit Fahrgästen, gerade weil man ja sehr unterschiedliche Menschen im Auto fährt. Ich hatte schon so viele spannende, lehrreiche, nachdenkliche oder anders bereichernde Begegnungen im Taxi. Wenn ich dabei nicht so schlecht verdienen würde, könnte ich mir gut vorstellen, den Job auch noch die nächsten zwanzig Jahre zu machen.
Andererseits bin ich schon wieder unruhig. Der ewige Wechsel von Sehnsucht und Heimweh, er ist mir schon mein ganzes Leben lang vertraut.
Einen Lebensentwurf habe ich also nicht. Wäre es anders, hätte mein Leben ihn schon einige Male zunichte gemacht. Und so wird mir immer klarer, dass mein Leben so läuft wie ein Taxi in der Nacht. Mal hier, mal dort, ohne Plan, ohne Gewissheiten. Das ist auch in Ordnung so. Und es macht mir Angst.
Wenn man nur 4 Tage die Woche arbeitet und sich ein Auto leistet, kann der Verdienst des Taxifahrer´s ja nicht so schlecht sein.
Wenn das mal alles wäre…
*unterschreib*²