Merkpfähle II — Majakowskiring

Ehemaliges Wohnhaus von Otto Grotewohl

Ich kam von Schön­holz herüber. Als der Weg über den Fried­hof führte, brach er mehr­mals durch die dünne Zeiten­de­cke und blieb in der Vergan­gen­heit stecken. Dort­her sind die Merk­pfähle. In den Maja­kowski­ring trete ich ein mit einem dicken Merk­pfahl auf der linken Schul­ter. Wenn er nicht anfinge mich zu drücken, wäre diese Ring­straße ein einfa­cher, ruhi­ger Ort.
1947 ist in New York eine Antho­lo­gie deut­scher Texte erschie­nen im Aurora Verlag, den 1944 Hein­rich Mann mitge­grün­det hatte, auf dessen Pankower Platz ich eben geses­sen hatte. Becher hat auch mitge­macht und Zweig und andere Pankower. Die Samm­lung hieß Morgen­röte. Der zweite Text ist ganz kurz und lautet: “Wenn man auf einer entfern­ten Insel einmal ein Volk anträfe, bei dem alle Häuser mit scharf gela­de­nem Gewehr behängt wären und man bestän­dig nachts Wache hielte was würde ein Reisen­der ande­res denken können, als dass die Insel von Räubern bewohnt wäre?”
Man kommt von der Grab­be­al­lee hinein in den Maja­kowski­ring und an der Ossietz­ky­straße ohne Probleme wieder hinaus. Da liegt auch das Schloss, zu dem der Weg eben­falls offen ist, wenn es auch wegen der in die Straße ragen­den Torhäu­ser so aussieht, als ob er jeder­zeit wieder geschlos­sen werden könnte.
Diesen Eindruck habe ich vom Maja­kowski­ring nicht. Man sieht ihm nicht mehr an, dass er abge­sperrt wurde, als er noch nach dem letz­ten deut­schen Kron­prin­zen und seiner Oma hieß und erst wieder geöff­net, als die “Herren aus Pankoff” zu “Männern von Wand­litz” mutiert waren.

Dass hier das “Städt­chen” war, in dem sich die obers­ten DDR-Herr­scher gettoi­sier­ten, sehe in der gemüt­li­chen Gegend nicht an. Die Straße wirkt zurück­ge­zo­gen; ich treffe einen einzi­gen Mann. Er sieht sympa­thisch aus, im kurz­är­me­li­gen Hemd, braun­ge­brannt, weiß­haa­rig, ein klei­nes leder­ge­bun­de­nes Buch in der Hand. Als er mich anspricht, denke ich: es ist jemand, der für eine Menschen­rechts­or­ga­ni­sa­tion Unter­schrif­ten des Protes­tes einsam­melt. Ein Zeuge Jeho­vas. Die Zeugen Jeho­vas sind auch vom Staat von Bonn verfolgt worden, weil sie unbe­dingte Pazi­fis­ten sind. Um dessen­wil­len bin ich auf ihrer Seite.
Gerade hat das Bundes­ver­wal­tungs­ge­richt ein rechts­wid­ri­ges Urteil über sie gespro­chen. Die Zeugen bren­nen jedem Staat auf der Haut. Ich bin mit meinen Meinun­gen über sie fertig. Ein Trak­tat will ich nicht. Einen klei­nen bunten Zettel nehme ich, weil er den berühm­ten Augen­blick abbil­det, in dem ein Schwert zu einer Pflug­schar wird. “Und Speere zu Sicheln” oder so ähnlich; der Zeuge hat eine andere Über­set­zung als Luther.
Das Haus, vor dem wir uns unter­hal­ten, nennt sich Lite­ra­tur­WERK­statt, es ist gut geweißt, sieht gar nicht nach Werk­statt aus, hinten ein Garten­haus, ein Liefer­wa­gen aus PM hat gerade was gebracht, zwei staats­tra­gende Fahnen­mas­ten ragen leer, aber ankün­di­gend in den Sommer­him­mel.
Nr. 46/48: Otto Grote­wohl hat hier gewohnt. Als wir den vorletz­ten Vorsit­zen­den der SPD frag­ten, was die SPD über die Tatsa­che denkt, dass eine der Haupt­stra­ßen Berlins nun nicht mehr nach ihrem ehema­li­gen (Teil-)Vorsitzenden, sondern wieder nach einem ehema­li­gen preu­ßi­schen König heißt, sagte er: Grote­wohl hat die Ideale der SPD verra­ten.
Ach, junger Mann: Und Ebert, dessen Straße hinter Hermann Göring wieder aufge­taucht ist? Er hat für WK I gestimmt, für einen Krieg der euro­päi­schen Arbei­ter gegen­ein­an­der. Gab es da kein Ideal, das entge­gen­stand? Die SPD hat ihre Ideale oft verra­ten. Das kann nicht das Krite­rium sein. Sondern Absicht und Ehrlich­keit, spätere Feig­heit wird verzie­hen. Die Wilhelm­straße hätte die Otto-Grote­wohl-Straße blei­ben sollen. Man darf die Geschichte nicht wie ein Steh-auf-Männ­chen behan­deln. Manche dürfen es eben doch.

Damit kommen wir zu Walter Ulbricht. Er wohnte Nr. 28–30. Aus der Betrach­tung des Hauses, das jetzt da steht, kann man keine Rück­schlüsse auf den Mann ziehen. Das ist ein Neubau. Ulbricht blieb ein Buhmann der deut­schen Geschichte. Auch die star­ken persön­li­chen Ähnlich­kei­ten zwischen ihm und Konrad Adenauer verde­cken die großen grund­sätz­li­chen Unter­schiede nicht. Wenn ich Plut­arch wäre, würde ich aus diesen beiden Männern mit dem sprö­den Verhält­nis zur deut­schen Spra­che ein einzi­ges deut­sches Leben machen. Der Vergleich hebt die Unter­schiede hervor.
Gerade weil Adenauer und Ulbricht sich so ähnlich waren, ist mir nie unklar gewe­sen, dass auf Adenau­ers Seite besser leben war. Für ein verei­nig­tes Deutsch­land waren sie beide nicht. Die Welt braucht kein Deutsch­land. Nach­bar Becher mit seinem “einig deut­sches Vater­land” lag da ganz falsch. Diskret betrachte ich Nr. 34. Ein Rechts­an­walt hat hier sein Büro. Eine große dunkle Tafel erin­nert an den Dich­ter der ande­ren deut­schen Natio­nal­hymne. Ich bin nicht dafür, dass Vater­län­der besun­gen werden, selbst Mutter­län­der nicht. Ich bin nicht fürs Vater­land. Ein Begriff aus der Motten­kiste der falschen Gefühle.
Einen kultu­rel­le­ren Kultur­mi­nis­ter hatte Deutsch­land kaum je als Johan­nes R. Becher (für einen Vergleich mit Sach­sen-Weimar-Eisen­ach war die DDR nun wirk­lich zu groß). Er hat Brecht den schnel­len Weg nach Deutsch­land geeb­net, er hat Hein­rich Mann geru­fen, den der Tod vor Zwei­deu­tig­kei­ten bewahrte. Er hat Hans Fallada ein neues Haus gege­ben. Jetzt steht Nr. 19 leer, in der Straße, der man 1994 den Namen gege­ben hat, mit dem Fallada im Perso­nen­stands­re­gis­ter stand: Rudolf Ditzen. Er war schon ziem­lich fertig, als er hier einzog. Hier hat er seinen letz­ten Roman geschrie­ben. Es war der erste Roman über den deut­schen Wider­stand gegen die Nazis. Über den Wider­stand von unten, nicht über den Wider­stand von oben, der später kam und auf den die Bundes­re­pu­blik ihr feier­li­ches Geden­ken dann meist beschränkt hat. Jeder stirbt für sich allein.

Ich komme an dem Haus vorüber, in dem Wilhelm Pieck, bis zu seinem Tode Präsi­dent der DDR, der erste und der letzte, gewohnt hat. Man hätte auch ihm seine Straße in Berlin lassen sollen, damit mancher sich gefragt hätte, wer war der Mann und was hat er getan vom SPD-Sekre­tär in Bremen bis hier­her in den versperr­ten Ring, das abge­le­gene preu­ßi­sche Schloss und den arran­gier­ten Fried­hof in Fried­richs­felde, auf dem er zwei­mal Rosa Luxem­burg begra­ben hat.
Der Staat von Pankoff ist lange hin. Schon seit 1956, als er zum Staat von Wand­litz wurde. Der Maja­kowski­ring ist längst zurück­ge­kom­men in die Reali­tät. Er ist kein Denk­mal. Er hat alles verges­sen. “Die Geschichte wird der revo­lu­tio­nä­ren Unge­duld der SED Respekt zollen.”
Hat sie’s getan? Hätte sie’s tun sollen? Auf Intel­lek­tu­elle ist kein Verlass, auch wenn sie große Klas­si­ker sind.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

Foto: Berlin Brewer, CC BY-SA 3.0

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