Die Wahrheit und die Wirklichkeit

Bis zur Danzi­ger Straße bringt mich meine Freun­din R. in ihrem schnel­len, flachen Auto, aus dem ich mich auf den para­do­xen Weg mache: hinauf zur Unter­grund­bahn.
Zur Schön­hau­ser Allee steigt die U‑Bahn auf, erhebt sich, hält sich eine ganze Weile oben, ehe sie nach einer bunten Fassade am Eschen­gra­ben wieder hinab­führt: bezie­hungs­reich bis zur Station Vine­ta­straße. Denn Vineta hieß die Stadt, die die Stürme des Meeres von der Insel Wollin hinab­feg­ten in einen Unter­grund der Sagen­haf­tig­keit.
Ich gehe nun das U‑Bahn-lose Stück der Berli­ner Straße hinun­ter, das die Tram in zwei ärger­lich getrennte Seiten zerschnei­det. Die U‑Bahn-Verlän­ge­rung zum S‑Bahnhof Pankow ist aber schon im Bau.
In einem Kirsch­baum abseits der Straße zwit­schern die Spat­zen und verbrei­ten ihr opti­mis­ti­sches Lebens­ge­fühl. Das Hof-Haus dahin­ter sieht ein biss­chen wie Goethes Garten­haus aus. Da fange ich schon an, an Heiner Müller zu denken. Ich will mir das Haus Kissin­gen­platz 12 anse­hen. Ich will mir vorstel­len, wie die Gegend hier vor 20 Jahren aussah, vor 19 Jahren, im Sommer 1978, als Müller hier mit der Stasi sprach.
Grüß Gott Berlin stand damals nicht an der S‑Bahnbrücke, auf die ich — das “Kissin­gen-Eck” im Rücken — hinab­bli­cke, denn die Straße hebt sich leicht an oder fällt ab zu dieser S‑Bahn-Unter­füh­rung, hinter der nach meiner persön­li­chen Vorein­ge­nom­men­heit erst das “rich­tige Pankow” beginnt und durch die ich nach­her zu dem back­stein­präch­ti­gen S‑Bahnhof Pankow gehen werde für die Rück­fahrt.

Aus dem Fens­ter der “Gerichts­klause” kann ich das Amts­ge­richt gut beob­ach­ten. Es heißt wieder Amts­ge­richt. Das Gebäude ist nicht mehr ganz dasselbe wie das, das das Stadt­be­zirks­ge­richt beher­bergte. In die Arkona- und die Lohme­straße hinein ist es durch neue weiße Flügel aus der Senats­bau­kunst erwei­tert. Eins der beiden Berli­ner Fami­li­en­ge­richte hat jetzt hier seinen Sitz, aber hinten zur Borkum­straße sind noch die Gebäude, um die eine Einsperr­mauer verläuft und deren Fens­ter vergit­tert sind. Die meis­ten deut­schen Gerichte haben etwas Einsper­ren­des. Da mögen sie sich nach vorne hin die imitie­rendste Mühe geben.
Der Haupt-Archi­tekt dieses Gerichts vom Anfang des [vori­gen] Jahr­hun­derts hieß Paul Thoe­mer, er ist für manchen Berli­ner Justiz­bau verant­wort­lich, vor allem für das heutige (sog. Neue) Krimi­nal­ge­richt in der Turm­straße: mit seinem Part­ner Rudolf Mönnich hat er außer diesem Pankower Gericht aus dersel­ben angeb­lich süddeutsch-baro­cken Formen­kiste auch das Amts­ge­richt Schö­ne­berg in der Grune­wald­straße zusam­men­ge­setzt: Vorstadt­ge­richte, hieß es damals, sie soll­ten länd­li­chen Charak­ter ausdrü­cken. Beim Amts­ge­richt Wedding verwen­de­ten sie dann “säch­si­schen Barock”, aber es kam immer dasselbe raus: eine Fassade, die nicht darüber hinweg­täuscht, was dahin­ter ist.
Gegen­über der Schul­fas­sade aus ähnli­chem Imitat­stil, die es ein Stück weiter ostwärts zu besich­ti­gen gibt, habe ich gerade das umge­kehrte Gefühl. Man muss das Türschild lesen, um zu wissen, dass hinter einer solchen Fassade eine Schule ist. Diese heißt jetzt nach Rosa Luxem­burg. Hoffent­lich hören die Schü­ler da drin­nen was über Rosa, ich würde sie die Liebes­briefe an Paul Levi lesen lassen, damit sie auch selber lernen, wie man Liebes­briefe schreibt: nämlich indi­rekt, lieber über Dring­lich­kei­ten als über Gefühle.
Vom Tor dieser Schule aus kann man auf der ande­ren Seite des Kissin­gen­plat­zes die Georgs­kir­che sehen. Der Turm ist beson­ders spitz, das goldene Kreuz auf der obers­ten Spitze beson­ders bedeu­tungs­voll, die Flug­zeuge kommen so tief herein, dass man befürch­tet: gleich stoßen sie an.
“Hic est porta coeli”: Hier ist das Tor des Himmels: Der Kissin­gen­platz ist schön, ein Platz für sich, in einer Gegend für sich, einer “besse­ren Gegend”, aber Tor zum Himmel…? St. Georg steht über dem Drachen, der Drache ist schon tot. 1978, stelle ich mir vor, war das allen­falls ein Bild der Hoff­nung. Oder ein ironi­sches Bild.

Kissin­gen­platz Nr. 12 wohnte Heiner Müller, als die Stasi-Offi­ziere Holm und Girod zu ihm zu Besuch kamen. Sie spra­chen mit Müller und seinem Freund Dieter Klein über — wie man so sagt, aber sie sagten es wohl nicht so — Gott und die Welt, das heißt: nicht über Gott, sondern vor allem über Karl Korsch und den kriti­schen Marxis­mus, später über die Welt­po­li­tik, über die Gefah­ren des Natio­na­lis­mus, über die Dritte Welt, über alles Mögli­che.
Die Tsche­kis­ten woll­ten — heißt es — die Akte Opera­tive Perso­nen­kon­trolle Müller, OPK “Zement”, umschrei­ben in den IM-Vorlauf “Heiner”, aus dem Opfer akten­mä­ßig einen Täter machen, damit er “da bleibt”, die DDR nicht verlässt… “1961 — da wurde die Mauer gebaut, wir waren erleich­tert … Eine ganz neue Möglich­keit zu arbei­ten: Die Mauer als Schutz gegen das Ausblu­ten … Und zur glei­chen Zeit sagte Otto Gotsche, der Sekre­tär von Ulbricht: Jetzt haben wir die Mauer, und jetzt werden wir jeden daran zerquet­schen, der gegen uns ist …” Kein Mensch ist inte­ger. In keinem guten Stück.

Ich mache mich auf den Rück­weg, durch die Karl­stad­ter Straße, die mit doppel­baum­be­stan­de­nem Mittel­strei­fen auf die Gemün­de­ner Straße zuläuft und mit ihr einen Platz bildet, von dem mich ein Haus­durch­gang zum Milten­ber­ger Weg und zur Georgs­kir­che zurück­bringt.
Die ganze Gegend ist sehr baum­be­stan­den; Kirche, Schule, Gericht, bessere Wohnun­gen, Vorstadt­ruhe, ein städ­te­bau­en­der Freund von mir sagt zu solchen Eindrü­cken schnell: “Bad Pyrmont”, hier müss­ten wir aber “Bad Kissin­gen” sagen. Je herbst­li­cher es wird, um so schö­ner ist eine solche Gegend. Berlin ist über­haupt eine herbst­li­che Stadt. Immer geht in ihr etwas zu Ende.
Die Wahr­heit ist etwas ande­res als die Wirk­lich­keit. Ich persön­lich glaube nicht an die Wahr­heit und schätze sie als sozia­len Wert nicht sonder­lich. Der Morgen­post­ser­vice in Nummer 38 zeigt die BZ-Schlag­zeile von heute an: “…und die Bibel hat doch Recht: Schlan­gen hatten früher Beine.”

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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