Manifest für ein Europa der Humanität und Solidarität

Allein in den ersten sieben Mona­ten dieses Jahres sind 1.674 Flücht­linge im Kanal von Sizi­lien ertrun­ken. Das Flücht­lings­drama im Mittel­meer verschärft sich — und Europa schaut zu. Wir wollen ein ande­res Europa. Ein Europa, das wirk­lich für die Ideen der Huma­ni­tät und Frei­heit aller Menschen steht.
Deshalb unter­stütze ich die taz-Kampa­gne “Keine Gren­zen für Menschen­rechte”. Bei der Herbst­kon­fe­renz der Innen­mi­nis­ter im Dezem­ber in Frank­furt am Main soll ein “Mani­fest für ein Europa der Huma­ni­tät und Soli­da­ri­tät” über­ge­ben werden, das bis dahin von möglichst vielen Menschen unter­zeich­net werden soll.

Sechs Einsprü­che gegen das Grenz­re­gime

I.  Das Mittel­meer wird zum Massen­grab der namen­lo­sen Flücht­linge. Die Zahl der Ertrun­ke­nen steigt. Die EU verschließt den Schutz­su­chen­den aus Nord­afrika den Zugang, über­lässt sie in unwirt­li­chen Wüsten­la­gern entlang der tune­sisch-liby­schen Grenze sich selbst. Allein in den ersten sieben Mona­ten dieses Jahres sind 1674 Flücht­linge im Kanal von Sizi­lien ertrun­ken. Berichte über unter­las­sene Hilfe­leis­tung durch Mili­tär­ver­bände oder kommer­zi­elle Schiffe mehren sich. Das Flücht­lings­drama im Mittel­meer verschärft sich — und Europa schaut zu. Menschen, die ihnen in Seenot helfen, werden ange­klagt. Selbst eine spani­sche NATO-Fregatte, die im Meer vor Libyen Bootsfl ücht­linge vor dem Ertrin­ken rettete, durfte keinen euro­päi­schen Hafen anlau­fen und wurde gezwun­gen, die uner­wünsch­ten Passa­giere in Tune­sien von Bord zu brin­gen. Die euro­päi­sche Grenz­schutz­agen­tur Fron­tex steht für den Ausbau eines tödli­chen Grenz­re­gimes, das unsere »Welt der Frei­heit und Demo­kra­tie« vor dem Begeh­ren der globa­len Armen »schüt­zen« will. Dieses Grenz­re­gime ist eine der größ­ten direk­ten Menschen­rechts­ver­let­zun­gen, die im Namen der EU began­gen wird. Der tägli­che Tod an den euro­päi­schen Außen­gren­zen ist eine Folge davon. Sech­zig Jahre nach dem Ja zur Genfer Flücht­lings­kon­ven­tion ist es höchste Zeit, die Soli­da­ri­tät mit den Schutz­su­chen­den zu erbrin­gen, zu der sie uns verpflich­tet. Das Ster­ben an den Außen­gren­zen muss aufhö­ren.

Wir wollen ein ande­res Europa. Ein Europa, das wirk­lich für die Ideen der Huma­ni­tät und Frei­heit aller Menschen steht.

II.  Staats­chefs, die gestern noch Part­ner der EU waren, werden heute als Kriegs­ver­bre­cher und Folte­rer ange­klagt. Als »Gendar­men Euro­pas« und »Garan­ten der Stabi­li­tät« wurden sie hofiert, bezahlt und gestützt, unge­ach­tet ihrer längst offen­sicht­li­chen Verbre­chen gegen die eigene Bevöl­ke­rung. Die neu entste­hen­den Struk­tu­ren sollen diese Kompli­zen­schaft fort­set­zen: Vor der diplo­ma­ti­schen Aner­ken­nung des liby­schen Über­gangs­ra­tes in Bengasi durch die EU-Staa­ten stell­ten italie­ni­sche Unter­händ­ler sicher, dass die Rebel­len das schon unter Gaddafi bewährte Abkom­men zur Abwehr von Flücht­lin­gen erneu­ern. Dieses Vorge­hen hat Tradi­tion. Schon 1999 beschloss die EU, sich eine gemein­same Asyl- und Zuwan­de­rungs­po­li­tik zu geben. Verein­heit­licht hat sie dabei vor allem ihre Bemü­hun­gen, sich abzu­schot­ten. Länder weit jenseits ihrer Gren­zen werden dabei zu Erfül­lungs­ge­hil­fen gemacht; Entwick­lungs­hilfe wird an die Bereit­schaft gekop­pelt, Flücht­linge und (Transit-)MigrantInnen zu stop­pen.

Die EU nimmt mit den soge­nann­ten Dritt­staa­ten­ab­kom­men zur gemein­sa­men Flücht­lings­ab­wehr Einfl uss auf die Ausge­stal­tung der dorti­gen Innen­po­li­tik. Durch den Aufbau einer Über­wa­chungs­lo­gis­tik und den Verkauf moderns­ter Sicher­heits­tech­nik werden die repres­si­ven Systeme (Poli­zei, Armee, Geheim­dienste) dieser Staa­ten und deren Vertre­ter gestärkt. In Libyen und Tune­sien zeigt sich, wie diese Hoch­tech­no­lo­gie zur Flücht­lings­ab­wehr in Krisen gegen demo­kra­ti­sche Bewe­gun­gen einge­setzt wird. Aber auch Grund­rechte wie die Ausreise- und Bewe­gungs­frei­heit werden durch erzwun­gene neue gesetz­li­che Rege­lun­gen in den »Part­ner­län­dern« einge­schränkt und Verstöße hart bestraft. Beharr­lich hält die EU an solchen Kompli­zen­schaf­ten fest. Das muss aufhö­ren.

III.  Nur ein Bruch­teil der Flücht­linge der Welt kommt nach Europa; die über­große Mehr­heit bleibt in den Ländern des Südens. Daher sind die Bilder aus Lampe­dusa, aus dem grie­chi­schen Grenz­ge­biet oder aus Malta ein künst­lich geschaf­fe­ner Notstand. Popu­lis­ti­sche Poli­ti­ker und Teile der Medien über­hö­hen die zur »Bedro­hung« von Sicher­heit und Wohl­stand drama­ti­sierte »Massenfl ucht« von Flücht­lin­gen und Migran­tIn­nen weiter und schü­ren vorhan­dene Rassis­men. So werden Ausgren­zun­gen und Aufrüs­tung legi­ti­miert. Doch Flucht und Migra­tion lässt sich nicht stop­pen. Nicht sie sind ein Verbre­chen, sondern wirt­schaft­li­che und poli­ti­sche Verhält­nisse, die die Menschen zwin­gen, sich durch Flucht über das Meer vor Not und Gewalt zu retten, sowie das Fehlen von lega­len Einrei­se­per­spek­ti­ven.

Schutz­su­chende dürfen nicht instru­men­ta­li­siert werden, um künst­li­che Bedro­hungs­sze­na­rien zu schaf­fen. Die EU muss ihre Gren­zen abrüs­ten und den lega­len und gefah­ren­freien Zugang für Flücht­linge ermög­li­chen.

IV.  Die soge­nannte Dublin-II-Verord­nung regelt die Verant­wor­tung für die Asyl­ver­fah­ren unter den Mitglieds­staa­ten. Dieses euro­päi­sche Gesetz hat die Verant­wor­tung für die Aufnahme von Asyl­su­chen­den extrem ungleich verteilt — zum Nutzen der Staa­ten ohne EU-Außen­grenze, allen voran Deutsch­land. Diese Ungleich­be­hand­lung trifft zuletzt die Flücht­linge selbst, denen das Recht genom­men wird, sich als Schutz­su­chende ihren Aufent­halts­ort selbst zu wählen. Die Dubli­ner Zustän­dig­keits­re­ge­lun­gen führen zu einer doppel­ten Verant­wor­tungs­ver­la­ge­rung. Während sich die Kern­län­der der EU auf bequeme Art ihrer Verant­wor­tung für eine humane Flücht­lings­po­li­tik entzie­hen, wehren die EU-Mitglie­der an den Außen­gren­zen vermehrt Flücht­linge brutal ab.

Die unfaire und unso­li­da­ri­sche Dublin-Rege­lung muss aufge­ho­ben werden. Alle EU-Staa­ten müssen ihren gerech­ten Beitrag zum Flücht­lings­schutz leis­ten.

V.  Flücht­linge und Migran­tIn­nen suchen nicht nur Schutz. Sie kämp­fen um ein besse­res Leben, für glei­che Rechte, für Auto­no­mie und Teil­habe am gesell­schaft­li­chen Reich­tum. Die Bewe­gun­gen der Flucht und Migra­tion inner­halb des afri­ka­ni­schen Konti­nents und entlang der südli­chen Grenz­re­gio­nen der Euro­päi­schen Union sind der Preis einer Globa­li­sie­rung, die an den Ressour­cen und Märk­ten des afri­ka­ni­schen Konti­nents, nicht an seinen Menschen inter­es­siert ist. Dabei muss gerechte Entwick­lung den Menschen des Südens auf der einen Seite das Recht auf Ausreise garan­tie­ren, gleich­zei­tig die sozia­len, ökono­mi­schen und poli­ti­schen Bedin­gun­gen schaf­fen, dass diese Menschen in ihren Herkunfts­län­dern blei­ben können.

Entwick­lungs­zu­sam­men­ar­beit darf nicht zum Hilfs­dienst für einen ausge­la­ger­ten Grenz­schutz gemacht werden. Die Poli­tik der EU und ihrer Mitglieds­län­der muss kohä­rent auf eine global gerechte Entwick­lung und die Schaf­fung menschen­wür­di­ger Lebens­be­din­gun­gen welt­weit­aus­ge­rich­tet werden.

VI.  Europa bean­sprucht, ein »Raum der Frei­heit, der Sicher­heit und des Rechts« zu sein und beruft sich dazu auf seine Geschichte, auf Huma­nis­mus, Aufklä­rung, auf seine Revo­lu­tio­nen. Euro­päi­sche Regie­rungs­chefs aber schä­men sich nicht, Flücht­linge als »mensch­li­chen Tsunami« zu diffa­mie­ren. Mit Enthu­si­as­mus verfol­gen wir die zivil­ge­sell­schaft­li­chen Aufstände in Nord­afrika und in den Ländern des Nahen Ostens, vor allem das Stre­ben der Menschen nach Frei­heit und Gerech­tig­keit. Die EU aber weigert sich, mit den neu errun­ge­nen Frei­heits­rech­ten auch die Frei­heit der Mobi­li­tät anzu­er­ken­nen. Doch muss sich eine Welt, die sich der Demo­kra­tie verpfl ichtet, daran messen lassen, wie sie mit der Migra­tion umgeht. Die Aufhe­bung von restrik­ti­ven Visa­be­stim­mun­gen, die Unter­stüt­zung von Schutz­su­chen­den und eine reale Perspek­tive für sie, inner­halb der EU eine neue Heimat zu fi nden, wären Ausdruck der in der Charta der Grund­rechte und in vielen Verfas­sun­gen der Mitglieds­län­der über­nom­me­nen huma­ni­tä­ren und demo­kra­ti­schen Verpfl ichtun­gen.

Statt diese Frei­hei­ten bei Bedarf popu­lis­tisch wieder in Frage zu stel­len, ist es höchste Zeit, dass sie für die EU auch außer­halb ihrer Gren­zen Gültig­keit haben.

Mehr Infor­ma­tio­nen sowie die Online-Möglich­keit zur Unter­zeich­nung gibt es hier:
bewegung.taz.de/aktionen/manifest/beschreibung

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5 Kommentare

  1. Hmm…
    Viel­leicht würde ja schon ein bisserl mehr Nächs­ten­liebe und ein offe­nes Auge und Ohr für den Mitmen­schen helfen?!

    Aber wenn sich nicht mal Poli­ti­ker von Parteien die ein C für Christ­lich oder ein S für Sozial im Namen tragen an die einfachs­ten zwischen­mensch­li­chen Grund­re­gel halten und weni­ger natio­na­le­go­is­tisch, macht­po­li­tisch und geld­dik­tiert denken, wird daraus wohl nichts werden.

    Gruß aus Fran­ken

    Ortwin

  2. Hallo Ortwin,
    ich kann Deinen Psimis­mus gut verste­hen. Aber Du weißt ja selber: Es ist mühsam und dauert lange, dicke Bret­ter zu bohren. Aber was soll’s, es muss trotz­dem sein.

  3. @Aro
    »Deinen Psimis­mus«
    Zu über­sinn­li­chen Kräf­ten hat es bisher noch nicht gereicht, aber was nicht ist… ;)

    Gene­rell bin ich auch garnicht pessi­mis­tisch, eher meist gut gelaunt und posi­tiv einge­stellt, meinem Wasser­zei­chen sei Dank. :)

    Nur ist mein Vertrauen in unsere Poli­ti­ker in den letz­ten Jahren doch sehr stark ins Wanken gera­ten. Manche von Ihnen haben sich inzwi­schen so weit von Ihrer Basis, geschweige denn ihrem Volk, entfernt und jonglie­ren mit Themen (Banken­krise, Zukunft Euro­pas, Neue Medien) die ihren Hori­zont offen­sicht­lich über­schrei­ten und/oder deren zukünf­ti­gen Konse­quen­zen sie sich weder bewußt sind, noch sich diese bewußt machen (wollen), daß mir Angst und Bang für die Zukunft folgen­der Gene­ra­tio­nen wird.

    Daher geht es meiner Meinung nach nicht um “das Bohren dicker Bret­ter”, um in deinem Bild zu blei­ben, sondern um “das Erset­zen verbohr­ter Bret­ter”.

    Gruß aus Fran­ken

    Ortwin

  4. Psimis­mus ist aber auch gut, oder?
    Ansons­ten hast du natür­lich recht. Auf Dauer werden wir neu bauen müssen, weil verschim­mel­tes Holz enfach nichts mehe taugt.

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