Wenn ich tief in der Nacht durch die leeren Straßen Berlins fahre, ist die Stadt gar nicht so dunkel. Sie ist nur anders hell, intensiver. Die Neonreklame an den Geschäften leuchten die Straßen aus, die Lichter der entgegenkommenden Autos und der Straßenlaternen spielen dazu die Begleitmusik. Dazwischen immer viel zu viel gelbe Taxischilder, die davon zeugen, dass noch andere Gestalten wie ich auf der Suche sind. Das ist an schlechten Tagen wie in der Wildnis, da gönnt man sich nichts und sowie Beute auftaucht, stürzt man sich drauf. Der abgedroschene Begriff des Großstadtdschungels bekommt hier einen Sinn. Es ist ein Gegeneinander.
Dazwischen die, die damit nichts zu tun haben, Radfahrer, Passanten, andere Autos, man muss sie mit den Augenwinkeln wahrnehmen, aber sie stellen keine Gefahr dar.
In Charlottenburg fahre ich an einen Imbiss, der Wirt fragt mich gleich beim Ankommen “Kassler mit Sauerkraut und ’n Multi?”. Er merkt es sich, obwohl ich hier nur alle ein, zwei Monate vorbei komme. Hier stehe ich beim Essen zwischen Kollegen, in deren Leben es ausschließlich ein einziges Thema gibt. Über all die Jahre habe ich sie noch nie über etwas anderes reden hören als über Fußball. Das ist schon beeindruckend. Aber langweilig. Danach gehts wieder los.
Die Nacht ist ein Verstärker. Sie verstärkt das Helle, Bunte, das Laute. Und auch das, was man nicht sieht oder hört. Traurigkeit, Nachdenklichkeit, Angst, Schmerzen, aber auch das Glück das man spürt, wenn man an einen geliebten Menschen denkt und sich vorstellt, wie er gerade jetzt in diesem Moment im Bett liegt und schläft.
In der Nacht kommt auch die Sehnsucht. Die Gedanken an Orte, die man unbedingt noch besuchen möchte oder die man nochmal wiedersehen möchte. Sehnsucht auch nach einem anderen Leben, in dem das Hinterherrennen im Alltag keine Rolle spielt. Ein Leben, das einen Sinn hat und nicht nur im Kalender Tag für Tag heruntergezählt wird, bis man auf Null ist. Sehnsucht, Sinn im Leben, das ist alles nichts Neues und doch so wichtig. Im Taxi bekomme ich oft kurze Einblicke in das Leben meiner Fahrgäste. Manchmal frustrieren sie mich, weil sie so unendlich banal sind und ihre Werte so billig. Wenn sie damit zufrieden sind, ist es ja okay, ich habe nicht das Recht, sie deshalb zu kritisieren. Aber ich finde es trotzdem traurig. Und wenn ich es mit meinem eigenen Leben vergleiche, dann erschrecke ich, weil ich bei all meiner Pseudo-Weisheit doch auch nicht anders bin als sie.
Aber wenigstens sehe ich es — und bin damit unglücklich. Blindheit ist also vielleicht gar nicht so schlecht.
Auf dem Weg nach Hause gehen mir wieder die Geschichten und Eindrücke dieser Nacht durch den Kopf. Dabei versuche ich mir einzureden, dass sie keine vergeudete Zeit sind, sondern interessant. Fließband wäre schlimmer. Aber vieles andere wäre besser.
Guter Text! Manchmal hab ich auch solche Anwandlungen. Und “Night on Earth” war schon immer einer meiner Lieblingsfilme.
Außerdem: die ganze Seite finde ich von den Inhalten sehr gelungen.
Viele Grüße aus Franken