Schneeglöckchen im Tiergarten

Schneeglöckchen

Gegen Mittag sind wir in die Akade­mie gefah­ren. Meine Freun­din und ich; Akade­mi­ker sind wir nicht. Wir können mit Stolz sagen: Wir gehö­ren keiner Akade­mie an.
Aber gele­gent­lich gehen wir in den Tier­gar­ten, wenn es dort was Akade­mi­sches zu sehen gibt. Kamen mit der U‑Bahn, Hansa­platz; die Akade­mie vom Typus-Archi­tek­ten Dütt­mann, der die Hände viel­fach im West­ber­li­ner Spiel hatte, gehört ganz in den Inter­bau-Stil der 50er Jahre, auch nicht gerade ein Stil, der viel Rück­sicht nahm auf die Gewe­sen­heit der Orte.
Die Akade­mie am Hansea­ten­weg hat etwas Erdi­ges, Gedrück­tes, weiß nicht, ob sie nicht doch ein Unter­stand, ein Bunker sein möchte, sein muss; der Weg dort­hin geht abwärts, wenn auch nicht drama­tisch. Am liebs­ten sitze ich auf den Stufen, drau­ßen. Dafür ist es heute zu kalt.

Viel los ist in der Akade­mie meis­tens nicht, meist sind die Akade­mi­ker unter sich; heuer im Februar, gar um den zehn­ten, ist es anders. Brecht wird 100. Ganz passend ist es ja nicht, dass das gerade hier geschieht. Die Ostaka­de­mie, deren Vize Brecht war, ist zwar hier­hin verei­nigt, aber Brecht im Inter­bau-Ambi­ente…
“Warum nicht?” sagt meine kluge Freun­din. “Brecht ist doch typisch 50er Jahre.” Naja, wenn man die 50er Jahre erlebt hat, dann hieße es, Brecht auf seine Irrtü­mer fest­le­gen, wenn man ihn bei Adenauer und Hein­rich Bren­tano einord­net.
Erst sitzen wir im Veste­bül. Es ist gut bewirt­schaf­tet. Für uns ist gerade noch ein Plätz­chen. Über­all Jugend. Neben uns die Gruppe spielt Skat. Die Mädchen lachen, laut und leise. Die Lehre­rin ist jung und hübsch, nur schwer von den Schü­le­rin­nen zu unter­schei­den. Sie scheint auch nicht über­mä­ßig viel Lust auf Brecht zu haben. Zwangs­be­su­cher.
In Deutsch­land wird die Pädago­gik aufge­bo­ten, um aus gewis­sen Wörter­ma­chern Klas­si­ker zu machen. Brecht — ein Muss. Als wir in den halb­dunk­len Ausstel­lungs­saal über die Rampe gehen, auf die man zuerst hinge­führt wird, und die Fotos betrach­ten, sagt meine Freun­din: “So ein klei­nes Männ­chen. Sieht ängst­lich aus und schüch­tern.” Ja, so sieht er aus. Früher ist mir das nicht so aufge­fal­len wie hier unter den lusti­gen und vorzüg­lich am eige­nen Leben inter­es­sier­ten Schü­le­rin­nen. Sie werden mit ihm fertig: “Ich habe gehört, dass 90 Prozent von Brecht gar nicht von Brecht ist, stimmt das?”. “Ja und nein”, sagt die Führe­rin, “90 Prozent ist aber keine passende Zahl.” Die Stücke von Shake­speare sind gar nicht von Shake­speare, sondern von einem ande­ren Mann glei­chen Namens. Tuchol­sky? Für heute sagen wir: von b.b. selbst.
Diese Ausstel­lungs­halle ist ein Halb­grab. Ikea-Vitri­nen schräg anein­an­der. Bücher, Schrift­stü­cke, Unan­schau­lich­kei­ten. Aber als ich den klei­nen Zettel sehe mit: “Als ich in weißem Kran­ken­zim­mer der Charité / Aufwachte gegen Morgen zu / und die Amsel hörte…” packt mich die Rührung und ich möchte nicht weiter­le­sen, weil ich — auf die unge­wis­sen Schläge meines Herzens lauschend — es auch besser wissen müsste. Ich will aber nichts wissen.

Ich dränge hinaus, aus dem Dunkel ins Licht. Wir blei­ben noch ein biss­chen unter den Kindern (“Jugend­li­chen”, sagt meine Freun­din), denen Brecht gleich­gül­tig ist, das freut uns, obwohl die Hoff­nung gering ist, dass der arme b.b. vor der Klas­si­zi­tät der Schul­bü­cher und Rahmen­pläne geret­tet werden kann. Dann gehen wir zu den beiden Alten.
Wir sagen: “zu den beiden Alten” in Erin­ne­rung an die beiden alten Schwes­tern, die das Cafe an der Ecke zum Holstei­ner Ufer so sorg­fäl­tig betrie­ben vor Jahren, den guten Baum­ku­chen gibt’s noch immer bei freund­li­cher Bedie­nung, bestel­len muss man an der Theke, bitte.
“Wenn gegen­über erst das Innen­mi­nis­te­rium einge­zo­gen ist”, sagt meine Freun­din, “werden die großen Lausch­an­griffs-Schü­ler hier­über hören müssen und mit uns ihre Übun­gen machen.”
Dann gehen wir, Arm in Arm, links an der Spree und rechts an Herzogs Mauer entlang. Heute kommen keine Grenz­schüt­zer, um uns zu kontrol­lie­ren; Herzog ist wohl nicht da, der hohe Staats­ge­fan­gene. Meine Freun­din hat keine genaue Vorstel­lung über das künf­tige Kanz­ler­amt, ich versu­che, ihr zu erklä­ren, was hier in der Nähe, mehr drüben, jenseits des Spree­we­ges, entsteht und was die Kräne bedeu­ten, die sich lang­sam und würde­voll vor dem blau-grauen Himmel bewe­gen.
“Wäre Bonn nicht doch eine ganz gute Haupt­stadt geblie­ben?” sagt sie. In Wirk­lich­keit gab es aber doch diese Alter­na­tive gar nicht. Das Parla­ment ist doch jetzt in Bonn schon fast tot; ein Denk­mal des Wahl­er­geb­nis­ses, ein Bunker der Unbe­weg­lich­keit. “Wird dieses Bundes­kanz­ler­amt nicht ein biss­chen zu groß für X oder Y oder ihn?” fragt sie, ohne wirk­li­che Lust auf eine Antwort. Vor allem X oder Y, die sie poli­tisch lieber hat als K, findet sie in Bezug aufs Ambi­ente klein, während wir jetzt durch den Tier­gar­ten gehen und nieman­den tref­fen.

Erst als wir uns am Verkehr der Entlas­tungs­straße entlang gedrückt haben und drüben auf die Südseite der Allee gelangt sind, die nach dem Tag heißt, über den sich b.b. laut und leise geäu­ßert hat wie viele, die später das Leise, das schlecht hörbar war, lauter wieder­holt wünsch­ten als das Laute, das vernom­men worden war, erst da tref­fen wir Menschen, ein Paar auch, sie kommen mir älter vor als wir, aber meine Freun­din lacht nur kurz auf, drückt mich dann jedoch in den Arm, viel­leicht hätte sie gesagt: Aber unsere Liebe ist doch noch jung, aber wir stehen ja mit den ande­ren da und betrach­ten die Schnee­glöck­chen, die sie plötz­lich gese­hen und mit einem Ausruf begrüßt haben, der auch uns verhal­ten ließ.
“Ehe noch andere kommen, die sie abrei­ßen und wegwer­fen, nehme ich sie lieber mit”, sagt die andere Frau und bückt sich schon. “Aber hier sind sie doch so schön”, sagt meine Freun­din. “Ach ja”, sagt die andere und rich­tet sich wieder auf. Wir lächeln uns an.
Drüben steht der Sowjet­sol­dat, der in den Himmel blickt von seinem Staats­denk­mal. Die T34 sehen rich­tig nied­lich aus gegen die Kriegs­ma­schi­nen von heute, denke ich. Die jeweils vergan­ge­nen Kriege waren immer harm­lo­ser als die, die kamen.
“Sie werden doch nicht wirk­lich Bomben auf Bagdad werfen”, sagt meine Freun­din. Nein denke ich, nicht wirk­lich: sie werden im TV zuschauen, da sieht es aus wie Holly­wood. Wir gehen durchs Bran­den­bur­ger Tor, betrach­ten die Speer-Nach­folge links und rechts.

Im Rest der Akade­mie spielt ein Stück über Speer. Hitlers Archi­tekt ist doch ziem­lich sieg­reich, sagen wir, sagen wir nicht. Sieg­reich, das klingt akade­misch.
Warten wir ab, welche Wider­le­gun­gen die Glas­fas­sade vor der neuen alten Akade­mie vortra­gen wird. Im Adlon hier hinten hatte Brecht seinen ersten Nach­kriegs-Wohn­sitz in Berlin. “In diesem Adlon hier aber nicht”, sagt meine Freun­din, während wir zur S‑Bahn hinun­ter stei­gen, die Ober­welt über uns lassend, die uns schon keine Erin­ne­rung mehr gestat­tet an gestern, den Juli/August 1961 zum Beispiel, als wir anka­men in Berlin, in dem wir nun alt gewor­den sind. Ein ande­res Ordnen als Unter­drü­cken gibt es nicht.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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