Deutsch in kleinen Buchstaben

Das ist wirk­lich ein Spazier­gang durch Kreuz­berg, beginnt in Schö­ne­berg, führt durch Kreuz­berg, Tier­gar­ten, nach Kreuz­berg zurück; von der S‑Bahn-Station Yorck­straße zum Anhal­ter Bahn­hof: so in der Wirk­lich­keit erster Dimen­sion, in der zwei­ten vom Grab der Brüder Grimm zu ihrer Wohnung in der Link­straße Nr. 7/8.
Es ist ein Früh­lings­tag im Februar. Die Meisen und die Zeisige zwit­schern; meine Mutter, in meiner Jugend, sang mir die Vogel­stim­men vor, am meis­ten beein­druck­ten mich die Zeisige, bis heute höre ich mit Vorliebe Zeisige, wenn alle Vögel da sind.
Alle Vögel sind schon da, Text vom Deutsch­land­lied-Dich­ter Hoff­mann von Fallers­le­ben, wohn­haft in der Link­straße, wohin mich mein heuti­ger Weg führen wird, wenn ich von der Erhe­bung herun­ter bin, auf der die Brüder Grimm auf dem alten Matthäi-Kirch­hof unter schlich­ter Schrift neben der denk­mal­ge­schütz­ten Gräber­villa der Hanse­manns beschei­den ruhen und einen weiten Blick haben über Kreuz­berg, gera­de­wegs hinüber, wo jetzt der grüne debis-Würfel leuch­tet: dort liegt die Link­straße.

Der Fried­hof endet an der Groß­gör­schen­straße; die Katz­ler­straße hinun­ter, nach rechts in die Yorck­straße, unter den 25 Brücken hindurch, über die die Eisen­bahn fährt bis in den Garten der Grimms; da war ihre Ruhe hin. Am Zoll-Eck, als ob es in frem­des Hoheits­ge­biet ginge, nach links in die Möck­ern­straße; über den Land­wehr­ka­nal, das Reich­piet­schu­fer abwärts auf debis zu.
An der Köthe­ner Straße endet Kreuz­berg, beginnt Tier­gar­ten. Die Link­straße hinter U‑Bahn- und Baustra­ßen-Trasse ist aller­neu­es­tes Berlin. Noch nicht mal ganz fertig. An der Eich­horn­straße wird sie Sack­gasse, offen nur für Baufahr­zeuge. Nummer 7/8 war oben, wo die Baucon­tai­ner stehen und ein Schwer­trans­por­ter seinen Schwer­trans­port entlang trans­por­tiert.
Bedeu­tungs­volle Werke sind von hier ausge­gan­gen. Rührende Szenen spiel­ten hier. Ich sehe durch die Gegen­wart hindurch, während der Wach­mann mich und Jagusch, den Foto­gra­fen, mustert und uns zuhört, während wir “Grimm” sagen.
Als Wilhelm Grimm starb, saß Jacob neben seinem Kopf­kis­sen auf einem nied­ri­gen Stuhl. Er zählte die Atem­züge des Ster­ben­den. Wilhelm erkannte den Bruder, glaubte aber, ein Bild vor sich zu sehen. “Sehr ähnlich”, sagte er. “In wohl­ge­füg­ten, ruhig entwi­ckel­ten Sätzen sprach er über sich”, schreibt Herman Grimm, der auch oben auf dem Kirch­hof neben Vater und Onkel liegt, “was er gewollt und getan, ging von dem Vergan­ge­nen auf die Gegen­wart über, beur­teilte die poli­ti­sche Lage der Dinge in der ihm eige­nen hoff­nungs­rei­chen Anschau­ung und schloss so einfach und natür­lich ab, dass, hätte man nicht den im hefti­gen Fieber Liegen­den vor Augen gehabt und empfun­den, wie der Tod eben zugrei­fen wollte, ein solches Ausein­an­der­le­gen der Gedan­ken auf den Besitz gesund arbei­ten­der Geis­tes­kräfte hätte schlie­ßen lassen”. Dann traf er einige Bestim­mun­gen über die zum Verschen­ken bestimm­ten Exem­plare der Neuauf­lage der Kinder- und Haus­mär­chen. Dann starb er.
Am 5. Juli 1860 sprach Jacob Grimm zu Ehren des verstor­be­nen Bruders in der Akade­mie der Wissen­schaf­ten. Er “begann mit etwas heise­rer, oft unter­bro­che­ner Stimme, bis er allmäh­lich in Fluss kam”: “Ich soll hier vom Bruder reden, den nun schon ein halbes Jahr lang meine Augen nicht mehr erbli­cken, der doch nachts im Traum, ohne alle Ahnung des Abschei­dens, immer noch bei mir ist.”

Einer der schöns­ten Rede­texte der deut­schen Spra­che. Jacob Grimm lebte noch drei Jahre. Am 20. Septem­ber 1863 starb er in demsel­ben Haus in der Link­straße, in dem das Leben seines Bruders zu Ende gegan­gen war und in dem die Brüder und Wilhelms Fami­lie seit 1847 gewohnt hatten. Als Grimms dort einge­zo­gen waren, war die Link­straße noch eine Land­straße mit Bier- und Kaffee­gär­ten. Aber an der Rück­front des Hauses führ­ten die Gleise zum Pots­da­mer Bahn­hof vorüber.
Als dann auch der Kanal entstand, der nun seit fast andert­halb Jahr­hun­der­ten die Gegend charak­te­ri­siert, hatte das Altber­li­ner Vier­tel für die Grimms seinen Reiz verlo­ren. Aber sie blie­ben hier und erleb­ten die raschen Wand­lun­gen der Stadt, die sie aufge­nom­men hatte, nach­dem sie — aufrechte Verfas­sungs­freunde — aus Göttin­gen vertrie­ben worden waren.
“Auch wissen­schaft­li­che Unter­neh­mun­gen, denen es noth thut tiefe wurzel zu schla­gen und weit zu grei­fen, hängen von äusze­ren anläs­sen ab. Allge­mein bekannt ist, dasz im jahr 1837 könig Ernst August von Hanno­ver die durch seinen vorgän­ger gege­bene, im lande zu recht bestän­dige und beschworne verfas­sung eigen­mäch­tig umstürzte, und dasz mit weni­gen ande­ren, die ihren eid nicht woll­ten fahren lassen (denn wozu sind eide, wenn sie unwahr sein und nicht gehal­ten werden sollen?), ich und mein bruder unse­rer ämter entsetzt wurden. in dieser zugleich drücken­den und erhe­ben­den lage… geschah uns von der Weide­mann­schen buch­hand­lung der antrag, unsere unfrei­wil­lige musze auszu­fül­len und ein neues, groszes wörter­buch der deut­schen spra­che abzu­fas­sen”.

Das sind die ersten Sätze der berühm­ten Vorrede zum 1. Band des bis heute einma­li­gen Lexi­kons der deut­schen Spra­che. Hier, in der Link­straße, schräg gegen­über debis geschrie­ben, datiert vom “2. merz 1854”: Groß­buch­sta­ben allein für Eigen­na­men und Absatz­be­ginn, sonst: nur Klein­schrei­bung, keine “verkleis­te­rung der substan­tive”, “lassen wird doch aus den haaren das puder weg, warum soll in der schrift aller unrat blei­ben?”
“Er sieht n biss­chen wie’n Auslän­der aus, spricht aber ziem­lich flie­ßend Deutsch und knipst immer zu”, sagt der Walkie-Talkie-Mann in sein Sprech­ge­rät, indem er Jagusch fixiert. Es folgt eine Pause, in der er nur zuhört, dann wirft er Jagusch noch einen Blick zu und dreht ab. Die Chefs haben nichts gegen Jagusch, obwohl er aussieht wie … wie ein Step­pen­rei­ter. Aber er spricht das Deutsch der Brüder Grimm. Darf blei­ben in der Link­straße.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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