Durchs falsche Weltreich

In Tier­gar­ten, solange es diesen Bezirk noch gibt, ist man eher, als man glaubt. Einge­stie­gen in die S‑Bahn, Bahn­hof Zoo, der in Char­lot­ten­burg liegt, kaum abge­fah­ren, ist man in Tier­gar­ten.
Im Zoo waren wir nicht; ich vermeide die Tier­ge­fäng­nisse. Wahr­schein­lich haben die Zoo-Pädago­gen Gegen­gründe. Die so idyl­lisch benann­ten zoolo­gi­schen Gärten umschlie­ßen so viel Melan­cho­lie. Welt­reichs­rück­stände. Zeug­nisse kolo­nia­ler Gesin­nung. Uns ist die Welt unter­tan, wir können der Natur ihre Tiere wegneh­men, die Elefan­ten verlie­ren den Verstand vor Kummer, blickt den großen Affen in die Augen, sie brin­gen es nie in die Akade­mie; oben in den Rehber­gen wollte Hagen­beck sogar fremde Menschen ausstel­len, damit die Weddin­ger was zu lachen haben. Skla­ven für die Skla­ven.
“Dort drüben haben sie Lieb­knecht ermor­det”, sagt meine Freun­din, die träu­me­risch aus der S3 heraus­sieht, nach Osten, in den Tier­gar­ten.
“Wer hat Lieb­knecht eigent­lich umge­bracht?”
Diesel­ben, die Rosa Luxem­burg umge­bracht haben. Wenn man Ebert sagt und Noske, die deut­sche Arbei­ter­par­tei, dann sagt man viel­leicht nicht die Wahr­heit, aber man lügt auch nicht.

Als das Welt­reich hin war, vermiss­ten es selbst die, die unter ihm gelit­ten haben, und woll­ten es wieder­ha­ben. Oder es war das schlechte Gewis­sen. Nach­dem sie ihres­glei­chen umge­bracht hatten und sich hatten von ihres­glei­chen umbrin­gen lassen, schäm­ten sie sich vor denen, die es ihnen zuvor gesagt hatten.
Der Blick aus der S‑Bahn, vom Bahn­hof Tier­gar­ten an nach Osten, ist einma­lig. Alles noch Baustel­len, was demnächst Staat sei wird. Bisher sieht in diesem Regie­rungs­bo­gen noch nichts endgül­tig aus.
Am Bahn­hof Fried­rich­straße stei­gen wir aus. Die Teilungs­ge­schichte wird hier kräf­tig ausra­diert. Bald hat der Bahn­hof Fried­rich­straße nichts mehr von der Lager­haf­tig­keit aus deutsch-deut­schen Grenz­zei­ten; damals fünf Minu­ten vom Zoo ins fremde Land und umge­kehrt. Das war die Strafe für den zwei­ten Welt­reichs­ver­such. Von hier — aus Berlin Mitte — ging er aus und hier­her sank er zurück, ganz schnell und pfei­fend, ein Luft­bal­lon, nach einem befrei­en­den Nadel­stich. Denn es war Befrei­ung, wenn auch die, die drin­nen saßen, meist andere Voka­beln verwen­de­ten. Noch in den 50er Jahren sagte man zu diesem Welt­reich­sende “Zusam­men­bruch”.

Wir stehen auf der Weiden­damm­brü­cke. Der Hinter­grund für den preu­ßi­schen Ikarus ist noch da, reno­viert, schön schwarz. Drüben jenseits des dunk­len Wassers das Berli­ner Ensem­ble, das durch das Jahr­hun­dert-Jubi­läum des Patrons gerade ein biss­chen wieder­be­lebt wird. Meine Freun­din hat die Brecht-Sonder­marke der Post noch nicht gese­hen. “Du liebes Biss­chen. Die sieht doch aus wie ’ne Wohl­fahrts­marke!” Ohne Staats­knete läuft auch Brecht nicht. Das Volk braucht Unter­hal­tung, kein Thea­ter, es hat das Fern­se­hen. Ich zeige meiner Freun­din den roten Kasten der ARD, hinten an der Marschall­brü­cke, spre­che vom ZDF Unter den Linden, Sat1 zwischen Jäger- und Tauben­straße: Das ist die Kultur. Ehrlich: das ist sie. Da können sie sich Lange­weile nicht leis­ten, unten wären die Quoten.
“Hier war die Pépi­nière. Drüben die König­li­chen Klini­ken auf der ande­ren Fluss­seite, hier vorne, zwischen Geor­gen­straße und Spree, Eingang Fried­rich­straße 140, war die Pépi­nière. Bis 1910. Dann drüben an der Inva­li­den­straße, wo das Wirt­schafts­mi­nis­te­rium einzieht.
“Pépi­nière?”
Kaiser-Wilhelm-Akade­mie. Kader­schmiede für die Mili­tär­ärzte. Das Grund­stück hat erst dem Brannt­wein­bren­ner Benja­min George gehört, nach dem die Geor­gen­straße heißt.
In seinem Garten saß Alex­an­der von Humboldt 1806, um magne­ti­sche Beob­ach­tun­gen zu machen beim Durch­zug eines Licht­me­te­ors; der Goethe-Herzog Karl August von Weimar saß neben ihm, ein preu­ßi­scher Gene­ral; Napo­leon hatte eben Berlin besetzt. Gott­fried Benn hat hier studiert, seit 1905.
Das passt nun, dass wir — während wir auf die Kaserne des Kaiser-Alex­an­der-Garde-Grena­dier-Regi­ments zuge­hen und dann ande­rer Regi­men­ter — an Alex­an­der von Humboldt denken, den Geis­tes­kai­ser, und an Benn, den Phäno­ty­pen des Jahr­hun­derts. Das wirk­li­che und das falsche Welt­reich. Von den sechs Top-Gedich­ten abge­se­hen, die niemand demnächst aus der deut­schen Lite­ra­tur wegbringt: Der Mann Benn gibt die Irrun­gen des Jahr­hun­derts wieder; das 19. Jahr­hun­dert hat sie ins 20. trans­por­tiert und das 20. — das Jahr­hun­dert der Extreme — hat sie poten­ziert.
Da wundert man sich, was über­haupt hier noch steht. Dass nicht alles dem Rasen gleich­ge­macht ist. Im Mörder­staat Deutsch­land. Der sich von einem ins nächste Reich hinlügt.

Hinten, in die Spitze der Muse­ums­in­sel hinein­ra­gend, das Bode-Museum. Gebaut als Kaiser-Fried­rich-Museum, vom Hofbau­meis­ter Ihme, wie ein Schloss, fertig 1904, Kunst­werke sammeln, um groß zu tun. Da war der Muse­ums­mann Bode nicht viel besser als der Kaiser.
Vorne am Zoo die Tiere der Welt, hier die Bilder der Welt. Groß­manns­sucht.
Hätten nicht ein paar Bomben mehr auf die Muse­ums­in­sel fallen können? Denke ich. Sage es nicht. Das wird nicht verstan­den. Eintritt kostet das Museum derzeit nicht. Es ist nicht viel in ihm zu sehen. Nur es selbst. Das aller­dings ist ein lohnen­der, ein pädago­gi­scher Anblick. Er belehrt darüber, dass hier eigent­lich kein Museum mehr ange­bracht ist.
Die Protz-Kästen brin­gen nichts mehr. Anstän­dige Bild­bände reichen. Und eben TV. Das Land sollte sich tren­nen von seinen Welt­machts­re­lik­ten. Kälte des Denkens, Nüch­tern­heit, Bereit­hal­ten von Bele­gen für jedes Urteil, Sicher­heit im Unter­schei­den von Zufäl­li­gem und Gesetz­li­chem … vor allem aber die tiefe Skep­sis, die Stil schafft … das wuchs hier: Benn über seine Hoch­schule an der Spree, dort hinten, wo sie nicht mehr ist.

Erst der Stil, dann der Welt­krieg: “Handeln heißt, die Widrig­kei­ten bedie­nen”. Es stimmte nichts in der Welt­stadt Berlin, der Stadt der falschen Welt­rei­che. In der Rekon­struk­tion liegt keine Zukunft. Im Abrei­ßen erst recht nicht. Denke ich, zum Palast hinüber­bli­ckend und an die Stelle, an der das DDR-Außen­mi­nis­te­rium fehlt. Dass man etwas vergisst, heißt nicht, dass es vorbei ist. Der “Verein histo­ri­sches Berlin” hat einen Nippes-Laden Unter den Linden. Als ob die Geschichte Dekor wäre.
Heim­wärts fahren wir durchs Bran­den­bur­ger Tor, “Platz der März­ge­fal­le­nen” haben einige Unter­hal­tungs­his­to­ri­ker den Platz davor genannt. Als ob die Revo­lu­tion 1848 ein Happe­ning gewe­sen wäre. Dass wir nur nicht wieder im Falschen landen. Im Geschicht­st­am­tam. Im Seht-her-Stil. Die anstän­dige Häus­lich­keit der alten BRD ist besse­res Erbe.
Meine beson­nene Freun­din blickt in den grauen Himmel, schweigt, hakt mich ein und zieht mich ein Stück­chen näher. Die Menschen sind die Städte, die leben­den.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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