Friedensklasse

Ausstei­gen , ehe der 237er umbiegt, Seege­fel­der Weg/Klosterbuschweg, unter der Bahn durch, nach rechts in den Unge­wit­ter­weg, bis zu der Stelle, wo die Heide­lake in einer Gras­land­schaft verschwin­det und der Weg sich zu einem Wiesen-Platz verdop­pelt. Dort kann ich auf einer Bank sitzen an der Straße Am Heide­berg, die in nord­süd­li­cher Biegung mitten durch die Garten­stadt Staa­ken führt, ehe sie am Torweg endet. Außer mir tritt hier für längere Zeit kein Mensch auf; dann eine ältere Frau, die lang­sam die lang­gra­sige Wiese über­quert und so drin­gend zu mir herüber­blickt, dass es unhöf­lich gewe­sen wäre, ihr nicht “Guten Tag” zu sagen.
“Kann ich Ihnen behilf­lich sein? Suchen Sie was?”
“Ich will die Garten­stadt besich­ti­gen. Wohnen Sie hier?”
“Ach”, ruft sie aus und blickt in den Himmel, “schon lange. Schon im Krieg.”
“Wo waren denn die Muni­ti­ons­fa­bri­ken?”
“Davon weiß ich nichts. Hinten auf dem Todes­strei­fen — wir sagen hier ja immer noch: Todes­strei­fen war ein Gefan­ge­nen­la­ger. Mit den Männern haben wir pous­siert. Ein Fran­zose ist nach dem Zusam­men­bruch zurück­ge­kom­men und hat eine gehei­ra­tet. Ab nach Frank­reich!”
Wo bin ich hier?

Ich war noch nie hier, hatte mir aber einge­bil­det, den Ort zu kennen. Wenn man hier ist, ist es ein idyl­li­scher Ort, wenn man in den Büchern liest, ist es ein ideo­lo­gi­scher Ort. Die Leute, die hier genos­sen­schaft­lich wohnen, die jungen Frauen zum Beispiel, die Mütter, die auf dem Kirch­platz auf ihre Kinder warten, die hier zur Schule gehen — schö­ner kann eine Groß­stadt-Schule doch gar nicht liegen, denke ich — wissen es viel­leicht nicht alle. Muss man es wissen? Sollte man?
In den Büchern steht die Garten­stadt Staa­ken meist unter dem Namen des Archi­tek­ten. Als er hier arbei­tete, war er 28, 29 Jahre alt und wurde 32, 33 bis er mit Staa­ken fertig war. Dafür musste er nicht in den Krieg; der Krieg war der erste Welt­krieg; der Bauherr der Garten­stadt war das Reichs­in­nen­mi­nis­te­rium; das Minis­te­rium baute, um sich die Loya­li­tät der Muni­ti­ons­ar­bei­ter zu sichern, lese ich. Wen man Tötungs­mit­tel herstel­len lässt, den muss man idyl­lisch wohnen lassen, sonst macht er viel­leicht nicht mehr mit. Der junge Mann, der mit Staa­ken auf einen Schlag berühmt wurde, ein kennt­nis­rei­cher Elsäs­ser, der aussah wie ein Land­edel­mann, hieß Schmit­t­hen­ner, Paul.
Später hat er noch viel gebaut in Deutsch­land. Mit einfachs­ten Baumit­teln schuf er Schön­heit, sagte sein Lehrer, seine Bauten sind unmit­tel­ba­rer Ausdruck eines warmen Herzens. Paul Schmit­t­hen­ner war einer der promi­nen­ten Nazis unter den deut­schen Archi­tek­ten.

“Tradi­tion ist die Grund­lage jeder natio­na­len Kultur, die immer nur aus dem mütter­li­chen Schoße eines Volkes gebo­ren wird.” Das schrieb er 1934 in seiner Programm­schrift: “Die Baukunst im neuen Reich”. Für die Garten­stadt, die er später in Stutt­gart baute, sagte er, sei charak­te­ris­tisch die “unbe­dingte Unter­ord­nung unter einen Führer­wil­len”. Später tat er so, als sei er’s nicht gewe­sen. Wie es viele mach­ten. “Poli­tik verdirbt den Charak­ter”, sagte er jetzt, meinte aber die ande­ren. Theo­dor Heuss, Kultus­mi­nis­ter damals nach dem zwei­ten Welt­krieg in Stutt­gart, verschaffte Schmit­t­hen­ner den Lehr­stuhl wieder, den er nach 45 zunächst hatte räumen müssen.
Schmit­t­hen­ner redete und baute weiter, die Seil­schaf­ten funk­tio­nier­ten, das kennen wir, darin hat die deut­sche Kultur Übung. Jetzt hatte Schmit­t­hen­ner fast den Eindruck, er sei ein Wider­stands­kämp­fer gewe­sen; 1958 deko­rierte man ihn in Anwe­sen­heit von Bundes­prä­si­dent Heuss, der ihn mochte und verstand — ach, es verstan­den ihn ja viele, vor allem viele von denen, die auch nicht wider­stan­den hatten — in einem glanz­vol­len Staats­fes­ti­val mit dem Pour le mérite — Frie­dens­klasse.

Ich bin durch den Langen Weg gegan­gen, durch die freund­lich im klei­nen Bogen geschwun­gene Straße, das Sträß­chen mit den blühen­den Klein­vor­gär­ten, das “Zwischen den Giebeln” heißt, und tatsäch­lich rücken die hollän­disch tuen­den Giebel­chen dicht aufein­an­der, auf den Kirch­platz; unter den Back­steint­or­gang muss ich mich bücken, um nicht mit dem Kopfe anzu­schla­gen, neben dem Kirch­lein, das die Anwoh­ner erst gar nicht haben woll­ten, durch den Garten­weg, der so privat wirkt, dass man um Erlaub­nis fragen möchte, in die Straße mit den orange-gelben Türen, “Am Pfarr­hof”, über den Torweg und durch “Am Heide­berg” wieder zurück zum Heide­berg­plan, den Platz, der inmit­ten der Garten­stadt liegt und alles hat, was man zur Alltags­ver­sor­gung braucht, auch ein Restau­rant, es heißt Heide­krug, ein Kroate führt es, dort esse ich Cevap­cicí mit Pommes.
Unge­fähr zur selben Zeit, zu der Schmit­t­hen­ner für das Reichs­in­nen­mi­nis­te­rium des Kaisers die Garten­stadt Staa­ken baute, baute am ande­ren Ende der Stadt, nahe bei Grünau Bruno Taut, auch ein junger Mann, für die Deut­sche Garten­stadt Gesell­schaft die Garten­stadt Am Falken­berg, Tusch­kas­ten­sied­lung, sagt man heute, nach­dem die Taut­schen Farben wieder­her­ge­stellt sind. Das ist die Moderne. Falken­berg: Moderne, Staa­ken: Gest­rig­keit. Dann könnte man noch die Preu­ßen­sied­lung nennen, in Altglie­ni­cke, von Muthe­sius, dem hoch­be­rühm­ten Land­haus­bau­meis­ter. Reisen Sie doch an einem schö­nen Wochen­ende, aber lieber wochen­tags, durch diese drei Kieze — darf man Kiez sagen, passt das Wort hier? — und denken Sie nach über Tradi­tio­na­lis­mus und Moderne, wer weiß worüber. Ich weiß nicht, ich weiß nicht. In der Bauge­schichte ist manches klarer als im Alltag.

Ich stehe vor dem Anschlag der Verwal­tung der Garten­stadt Staa­ken, auf dem sie hinter klei­nem Draht­git­ter erklärt, wer hier das “Recht auf wohn­li­che Versor­gung durch Mietung einer Genos­sen­schafts­woh­nung hat” und was eine Fami­lie im Sinne der Genos­sen­schaft Staa­ken ist. “Unbe­fug­ten ist die bild­li­che Darstel­lung verbo­ten” steht an einem Klein­gar­ten zwischen “Am Heide­berg” und “Am Langen Weg”, dort gehe ich jetzt den Garten­weg entlang, es ist ein sozio­lo­gi­scher Lehr­pfad. “Wer einen Blick auf die Schre­ber­gär­ten rings um unsere Groß­städte wirft, der weiß, wohin der Wunsch der Menschen geht”. Sagte jener Schmit­t­hen­ner, der Oppor­tu­nist, der völki­sche Anpas­ser, der Ordens­trä­ger Frie­dens­klasse.
Falsch und rich­tig — Es ist alles falsch und rich­tig. Auch die Garten­städte, die in den Büchern zur Moderne rech­nen, sind idyl­lisch und eng. Fami­liär. Ich bin Fami­li­en­recht­ler, ich kenne den Begriff. Wer sich in Fami­lie begibt, kommt darin um. Sagte Heimito von Dode­rer. Er hat auch mit den Nazis mitge­macht. Und es hinter­her etwas anders darge­stellt.
In der Garten­stadt Staa­ken gab es um den Maler­meis­ter Loebel eine linke SPD, die von den “SPD-Bonzen” im Rathaus und später im Exil in Prag nichts hielt, sie leis­tete den Nazis Wider­stand, zusam­men mit dem aufrech­ten Poli­zei­ma­jor Hein­rich, den nach 45 die Sowjets umbrach­ten. Wenn die Zeit vergan­gen ist, ist alles eins. Gestern gab es noch Unter­schiede.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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