Schulweg

Der Bahn­hof Wollank­straße ist keine Schule der Erin­ne­rung. Die Erin­ne­rung an die Mauer ist ein Schat­ten an der Mauer. Die Gegen­wart der Vergan­gen­heit ist kurz. Flora­straße, Blumen­straße, das passt zum Sommer­tag und zu dem Einheits­ge­fühl, das meine Seele beherrscht in diesem Pankower Augen­blick.
Der Gärt­ner Görsch hatte Spar­gel­fel­der. Nach ihm heißt die Straße, in die ich jetzt einbiege. Stil­bruch heißt im verfal­le­nen Haus das Eckcafé; ein Café ist es eigent­lich nicht. Zwei blonde Schü­le­rin­nen verkau­fen Kaffee und belegte Bröt­chen. Ich sitze drau­ßen im Anblick der Ossietzky-Schule. Man sieht ihr nicht an, dass sie nach Ossietzky heißt. 1909/10 gebaut in Hollän­di­scher Renais­sance, Pseudo-Renais­sance, sagte man. Jetzt ist es egal. Die Schule ist eben alt. Schön alt, kalt alt, je nach persön­li­cher Einrich­tung in der Moderne, in der das Modernste ja das Post­mo­derne ist: geis­tig also etwas Vormo­der­nes.

“Heiratsde nu doch”, fragt der eine Bauar­bei­ter am Neben­tisch den ande­ren, “hasde deine Olle ooch schon Schwan­ger­schafts­test machen lassen? … Un?”
Gegen­über kommen die Schü­le­rin­nen an, einige mit Autos, sie umar­men und küssen ihre Freun­din­nen und Freunde, die auf der klei­nen Wiese vor der Schule im Gras sitzen.
“Hey!”
“Hey!”
Wird in den Schu­len Liebe geübt? Natür­lich, in jeder Schule wird die Liebe geübt, weil es die Jugend ist. Die Jugend und der Sommer. Was gibt es Schö­ne­res als Jugend und Sommer?
Kaum war die Schule fertig, rief der Kaiser die Kinder auf, sich totschie­ßen zu lassen und die ande­ren totzu­schie­ßen, deren Schu­len genauso aussa­hen. Zum Rhein, zum Rhein, zum deut­schen Rhein, bis alles in Scher­ben fällt, aufer­stan­den aus Ruinen, Frei­heit ist immer Frei­heit der Anders­den­ken­den. Der Staat sitzt auf dem Curri­cu­lum. Ein paar Schü­ler haben an dieser Schule nein gesagt. Wir wissen es noch, aber wir haben’s verges­sen.

An der Halte­stelle Rathaus Pankow, gegen­über der Lücke, die das werdende Kauf­haus-Center geris­sen hat, warte ich auf den 155er. Die Erneue­rung Berlins ist vor allem eine Verwand­lung. Wir müssen genau hingu­cken, dass wir unsere Stadt auch wieder erken­nen, wenn sie wieder mal fertig ist.
“Bisde nu schwan­ger?”, fragt die eine Gutge­schminkte im Bus hinter mir die andere. “In welchem Monat?”
“Sechste oder siehmte Woche.”
“Das heißt, das Abitur machsde noch! … Ich bin mit Alex ausein­an­der. Wegen der fetten blon­den Schlampe.”
Der Bus fährt mich nach Weißen­see. Stadt, Vorstadt, wieder Stadt. 15 Statio­nen. 15 Statio­nen Zeit­geist, die beiden Blon­den stei­gen auch am Rathaus Weißen­see aus. Alles, was sie über Sexua­li­tät wissen, wissen sie aus der neuen BRD. In der DDR waren sie Kinder. Das ist vorbei.
“Wien Mann wirk­lich aussieht, kannsde erst sehen, wenn er aufm Motor­rad sitzt.” Die Kolle­gin versteht das nicht. Sie ist noch nicht so weit. “Weil de dann sein Gesicht nich sehn kannst. Die Gesich­ter täuschen meist.”

Das Rathaus Weißen­see stammt aus der Zeit, in der Berlin moder­ner und größer ausse­hen wollte, als es war. Während ich durch die Traba­cher Straße gehe, denke ich: Woran könnte man erken­nen, dass hier mal DDR war?
Weit habe ich es nicht mehr durch die Bern­kas­te­ler Straße, am Tram-Depot der BVG gerade vorbei, da stehe ich schon vor dem Schul­ge­bäude, das ich hier suche. Auch diese Schule ist aus der Zeit knapp vor dem Ersten Welt­krieg, und die Wohn­bau­ten, die sich die Trie­rer Straße hinun­ter, in der Case­ler Straße zu einem städ­ti­schen Hof verbrei­ternd, zur Berli­ner Straße erstre­cken, sind während des Ersten Welt­krie­ges entstan­den. Der Archi­tekt hieß James Bühring, Stadt­bau­rat von Weißen­see, später von Leip­zig. Er war geis­tig viel­leicht schon ein biss­chen weiter als Fenten, Fran­zen, Klante, die in Pankow bauten. Aber das sind Unter­schei­dun­gen aus den Archi­tek­tur­bü­chern. Sie gehen die Wirk­lich­keit nichts mehr an.
Es sind keine fünf Minu­ten von hier bis zur ange­neh­men Tram Nr. 3 und dann noch 20 Minu­ten, bis ich an der Hufe­land­straße ausstei­gen und auf der Wiesen­in­sel, die die Stra­ßen­bahn inmit­ten der Greifs­wal­der Straße lässt, die Front von Nummer 25 betrach­ten kann; eine dritte Schule heute, auch aus der Zeit knapp vor dem Ersten Welt­krieg; eine Säulen­fas­sade unter einem Walm­dach, das ein ins Groß­städ­ti­sche vergrö­ßer­tes Goethe-Garten­haus ist.

Was hat den Stadt­bau­rat Ludwig Hoff­mann, frage ich mich, veran­lasst, gerade hier­her eine solche Fassade zu stel­len für eine Schule? Die Eltern der Schü­ler wähl­ten fast alle sozi­al­de­mo­kra­tisch, 143.000 Stim­men SPD, Frei­sinn 18.000, Konser­va­tive 4000, alle ande­ren nicht mal 1000.
Die Schule heißt jetzt nach Kurt Schwit­ters, fast eine Ironie. Der asphal­tierte Weg gleich rechts neben der Schul­fas­sade führt schnell auf einen klei­nen Platz; der Rücken schmerzt mich, ich setze mich auf einen Beton­stein, Auto­haus Königs­tor hinter mir: eine Ruine von jetzt, dahin­ter eine Indus­trie­ruine von gestern, die Pappeln pappeln, die Linden säuseln, der kleine Ahorn antwor­tet dem sach­ten Wind, es ist halb fünf Uhr nach­mit­tags an diesem Sommer­tag, keine Schul­kin­der in dem Lang­schul­haus, das die graue Wirk­lich­keit darstellt hinter der täuschen­den Fassade.
Hier ging mein Bruder zur Schule”, sagt eine vor über­ge­hende Frau zur ande­ren. “Nächs­tes Jahr iss er ab nachm Westen.”

“Ich habe euch alle lieb, danke für die schöne Zeit” ist im Schul­hof vorne ange­sprayt, hinten: “Haus­meis­ter, Du wirst ster­ben.” Es donnert in der Ferne. Dupli­kate der Rosi­nen­bom­ber in der Luft. Luft­brü­cken­ge­denk­tag, an den meis­ten Leuten hier geht das vorbei. Eine sanfte Stim­mung von Gewe­sen­heit. Dieser Platz ist einer jener Geheim­plätze, an denen sich Berlin verdich­tet zu seiner ruhi­gen Wirk­lich­keit.
Ich gehe um den Block herum, der die Schule umschließt, Am Fried­richs­hain, Bötzow­straße, Nieder­kirch­ner­straße. Im “Babel” bestelle ich mir einen Milch­kaf­fee und betrachte in erschöpf­ter Ruhe die Wand gegen­über in viel­far­bi­gem Braun-Orange. Harald Schmidt, der hinten in dem klei­nen Fern­se­her Geld macht, wirkt unwirk­lich; er gehört zu einer ande­ren Welt, in der die Unwirk­lich­keit die Wirk­lich­keit ist … aber das stimmt nicht. Unsere Welt besteht aus diesem und jenem. Wahr­heit und Lüge: nur eine Benen­nungs­frage. Renais­sance-Puttos, Mosa­ik­back­steine, Antik­säu­len: das Wort Schule klingt anfangs viel­ver­spre­chend, endet aber schnell mit einem schwä­bi­schen Dimi­nu­tiv.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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