Irrungen, Wirrungen

Die Koenigs­al­lee, die aber gar nicht nach den Köni­gen, sondern nach dem Bankier heißt, der zu Ende des vori­gen Jahr­hun­derts im Grune­wald die Kolo­nie der Reichen und Mäch­ti­gen begrün­dete, ging noch vor der Halen­see-Brücke und dem Henri­et­ten­platz in den Kurfürs­ten­damm über, als ob es eine einzige Straße sei. Von dort lief sie fast schnur­ge­rade durch Char­lot­ten­burg und Wilmers­dorf, das gerade am Beginn des [vori­gen] Jahr­hun­derts erst aufhörte, Dorf zu sein, bis zur Corne­li­us­brü­cke. Erst 1925 erhielt dieser östli­che Teil — sozu­sa­gen ersatz­weise — den Namen Buda­pes­ter Straße, weil die alte Straße dieses Namens am Bran­den­bur­ger Tor in diesem Jahr seines Todes ihren Namen an Fried­rich Ebert, den ersten Reichs­prä­si­den­ten, abtre­ten musste: ein Namens­tausch, denke ich, von fast schmerz­li­cher Ironie; ich erzähle gleich, warum mich dieses Gefühl über­kommt.

Von der Gedächt­nis­kir­che an, die seit den begin­nen­den 1890er Jahren welt­macht­lich inmit­ten des Dammes stand und uns als ein Mene­te­kel des Unter­gangs ihren Ruinen­turm hinter­las­sen hat, verlief der Kudamm am Zoo entlang. Der Haupt­ein­gang des Zoos, das Elefan­ten­tor, lag von Anfang an unge­fähr da, wo es auch jetzt noch (oder wieder) versucht, Exotik zu entfal­ten, obwohl es nun eher eine melan­cho­li­sche Komik ist oder einfach Groß­stadt­talmi oder schon Erin­ne­rung, Erin­ne­rung an sich selbst. Auf dieses Tor lief die Kurfürs­ten­straße zu, die ein Stück südli­cher von der Nürn­ber­ger so gekreuzt wurde, dass dem Zooein­gang schräg gegen­über am Kurfürs­ten­damm zwischen der Kurfürs­ten­straße im Westen und der Nürn­ber­ger im Osten ein Stra­ßen­stück entstand, auf dem das Stück Geschichte spielt, das an diesem sonni­gen Sonn­abend, am 10. April — es ist zufäl­lig mein 64. Geburts­tag — vor meiner müden Seele verwir­rend vorüber­irrte.
1877 waren Reichs­tags­wah­len, die SPD gewann mit 9,1 Prozent der Stim­men zwölf Mandate, die Konser­va­ti­ven mit 9,7 Prozent 40. Die stärkste Reichs­tags­par­tei bildete das natio­nal gesinnte Indus­trie- und Bildungs­bür­ger­tum, “Besitz und Bildung”; der Reichs­kanz­ler Bismarck war dabei, sich mit der katho­li­schen Kirche ausein­an­der­zu­set­zen, “Kultur­kampf” nannte Virchow, der nicht nur ein großer Arzt, sondern auch ein bedeu­ten­der Poli­ti­ker war, diese innen­po­li­ti­sche Bewe­gung, 1876 waren alle preu­ßi­schen Bischöfe verhaf­tet oder ausge­wie­sen; 1875 wurde — erst 1875 war das! — die obli­ga­to­ri­sche Zivil­ehe einge­führt: Eheschluss sei Staats‑, nicht Kirchen­sa­che oder gar Gottes — ; 1878 wech­selte Bismarck die Feinde des Reiches, nach der Katho­li­ken­ver­fol­gung kam die Sozia­lis­ten­ver­fol­gung usw…: gerade diese Jahre sind es, Pfings­ten 1875 bis August 1878, in denen “Irrun­gen. Wirrun­gen” spielt. Vom Juli bis zum August 1887 erschien dieser Roman Theo­dor Fonta­nes in der Vossi­schen Zeitung, der “diese Huren­ge­schichte” eine Menge Abbe­stel­lun­gen eintrug.

Was ist es für eine Geschichte? Eine Liebes­ge­schichte natür­lich, alle guten Geschich­ten sind Liebes­ge­schich­ten; eine tragi­sche — kann man nicht sagen, denn am Ende stehen zwei Ehen, aber es sind Ehen zwischen den falschen, die aber wohl bürger­lich-recht­lich die rich­ti­gen sind, denn “Ehe — das ist Ordnung”, Liebe ist Unord­nung, “Arbeit und täglich Brot und Ordnung. Wenn unsere märki­schen Leute sich verhei­ra­ten, so reden sie nicht von Leiden­schaft und Liebe, sie sagen nur: ich muss doch meine Ordnung haben … Denn Ordnung ist viel und mitun­ter alles … Ordnung ist Ehe.” Undso­wei­ter, eine solche Geschichte ist das, die haupt­säch­lich hier spielt, “an dem Schnitt­punkt von Kurfürs­ten­damm und Kurfürs­ten­straße, schräg gegen­über dem Zoolo­gi­schen”, in Dörrs Gärt­ne­rei. Wenn man an dem Schie­fer­brun­nen auf dem Olof-Palme-Platz sitzt, wie ich jetzt, sitzt man, kann man sich einbil­den, gerade da, wo der Baron Botho von Rienä­cker saß, der die Nähe­rin Lene Nimptsch wegen des Geldes und wegen des Stan­des nicht heira­ten konnte; es lag nicht an ihm, “die Welt heraus­zu­for­dern und ihren Vorur­tei­len den Kampf anzu­sa­gen.“
Lene ist groß, schlank, blau­äu­gig und asch­blond. Also äußer­lich eine ganz andere Frau als Rosa, die klein, schwarz, dunkel­äu­gig ist und die hinkt. (Inner­lich gibt es Ähnlich­kei­ten: “…gewöhnt, nach ihren eige­nen Entschlüs­sen zu handeln, ohne viel Rück­sicht auf die Menschen und jeden­falls ohne Furcht vor ihrem Urteil” und vor allen: die Fähig­keit zu lieben, die Menschen, die Sonne, die Tiere … So dass man übri­gens nicht glau­ben kann, dass das Schick­sal Rosa Luxem­burgs anders verlau­fen wäre, wenn sie groß, blond und blau­äu­gig gewe­sen wäre).
In meinem Rücken tut sich also das Elefan­ten­tor auf in den Zoo, linker Hand schwingt sich die Buda­pes­ter Straße — in die Nürn­ber­ger über­ge­hend — um den elegan­ten Rund­bau der Grund­kre­dit­bank herum, der hier seit 1985 einen städ­te­bau­li­chen Glanz­punkt setzt, und vor mir erhebt sich über Versi­che­run­gen, Auto­ver­mie­tun­gen und dem Mode­haus Görs plat­ten­weiß das Apart­ment­haus Eden, in das die Straße hinter inter­na­tio­na­len Fahnen, an einer Rezep­ti­ons­theke vorbei, breit hinein­läuft, aber man merkt es kaum. Lene Nimptsch und Botho von Rienä­cker hörten hier, als sie sich abend­lich küss­ten, die Trom­pe­ten­rufe der Elefan­ten, die sich bis zum Wahn­sinn nach der fernen Heimat sehn­ten.

Und hier — man könnte sich selbst an die Stelle stel­len, um sich nach dem Wieso zu fragen, aber es war voraus­ei­len­der Gehor­sam, Beflis­sen­heit, die mit sozia­ler Beloh­nung rech­nete — vor dem Tor des Eden-Hotels schlug der Jäger Runge Rosa Luxem­burg mit dem Gewehr­kol­ben auf den Kopf, sie sank zusam­men, die Offi­ziere, die ihre Mörder waren, warfen sie wie ein Stück Vieh in das bereit­ste­hende Auto, wenige Meter weiter, Ecke Nürn­ber­ger, sprang der Leut­nant Souchon auf und erschoss sie befehls- und verab­re­dungs­ge­mäß, aber vor allem, weil er es selbst so wollte.
Noch vor dem Hotel Inter­con­ti­nen­tal, das nicht weit östlich empor­ragt, vor dessen Bücher­wand der SPD-Kanz­ler Schrö­der vor kurzen den ersten Krieg der Bundes­re­pu­blik erklärte, ohne ihn zu erklä­ren, führt durch eine Gitter­tür ein hübscher Spazier­weg entlang, der bei dem schö­nen expres­sio­nis­ti­schen Zoo-Haus am Katha­rina-Hein­roth-Ufer in den Ufer­weg selbst über­geht. Am idyl­li­schen Kanal­ufer entlang sind es von da nur wenige Meter bis zum Fuße der erneu­er­ten Lich­ten­stein­brü­cke. Dort warfen die Mörder-Offi­ziere, die der Ober­leut­nant a.D. Kurt Vogel aus Wilmers­dorf komman­dierte, Rosa — schon tot oder noch lebend — in das Wasser des Verges­sens.
Der SPD-Minis­ter Noske war einge­weiht, er stützte die Mörder, und auch dem späte­ren Reichs­prä­si­den­ten Ebert wird der Mord zupass gekom­men sein; man muss es vermu­ten; hinter die Motive zu kommen, ist schwe­rer. Die Sozi­al­de­mo­kra­ten haben, hieß es gele­gent­lich, eine merk­wür­dige Zunei­gung zum Mili­tär. Die Luxem­burg-Mörder sind bekannt. Verant­wor­ten muss­ten sie sich nicht. Der Olof-Palme-Platz an der Buda­pes­ter Straße, die als Ersatz für die Ebert­straße hier­her gewan­dert ist, heißt eben­falls nach einem Links-Sozia­lis­ten, der ermor­det worden ist, ohne dass man die Mörder fand, heißt es. Ganz voll­stän­dig deckt die Gegen­wart die Vergan­gen­heit nicht zu.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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