Sein Name wird nicht verhallen

Mit der U7 ist man von vielen Berli­ner Orten schnell am Rathaus Span­dau. Von dort nimmt man den Bus 134. Oder man steigt am Zoo gleich in den Bus X34, und in einer Drei­vier­tel­stunde ist man an der Dorf­kir­che in Kladow.
“Wie heißt bloß dies weiße Gesträuch”, frage ich L., “das von weitem aussieht wie Weiß­dorn, aber es ist eben kein Weiß­dorn?“
Auf der roten Bank auf dem schö­nen Platz vor der Kirche sitzt eine Alte. L. fragt sie.
“Wenn Du mir zwei Mark gibst, sag ich Dir’s.” Hier sind die zwei Mark.
“Weiß­dorn!”, sagt die Alte.
“Nein, eben nicht!”, ruft L. Die Alte lacht. “Mehr weiß ich davon nicht!“
Nach diesem Vorspiel begin­nen wir unse­ren heuti­gen Span­dau-Spazier­gang mit Kaffee­trin­ken bei Alberto, dem Italie­ner, links vor der Kirche.
“Haben Sie auch Post­kar­ten?”
“Sie sind wohl nicht aus Berlin?”
“Doch! Gerade eben deshalb. Wir wollen Leuten in woan­ders schrei­ben, wie groß Berlin ist. Manche Lokale haben Post­kar­ten.”
“Ja, aber das sind Ausflugs­lo­kale. Wir sind ein rich­ti­ges Restau­rant.”

Das kommt mir nun vor wie das Satyr­spiel vor dem ernst­haf­ten Stück. Denn mein Weg nach Kladow hat einen beson­de­ren Grund. Es ist nicht nur ein Ausflug durch das Land, sondern auch durch die Zeit. Manch­mal, wenn man in das Alter gekom­men ist, kommen die Stun­den, in denen man rück­wärts blickt statt nach vorn, die längere Zeit über­blickt statt der kürze­ren.
Als ich knapp 30 war, Rich­ter am Land­ge­richt, hatte ich Illu­sio­nen über meinen Beruf. Zum 500-jähri­gen Jubi­läum des Kammer­ge­richts, 1968, schrieb ich einen Aufsatz, der mir damals sehr gefiel. Er hieß “Oppo­si­tio­nelle Rich­ter” und erzählte von Rich­tern, die vor Grün­dung der reichs­deut­schen Justiz, die bis heute Menta­li­tät und Gesin­nung in den deut­schen Gerich­ten beherrscht, andere, poli­tisch-bewuss­tere Juris­ten gewe­sen waren. Alle gefeu­ert, vom preu­ßi­schen König verjagt. Aus altem Papier fiel mir der Nekro­log vor die Augen, den 1881 über einen von ihnen die “Basler Nach­rich­ten” gedruckt hatten. “Sein Name”, heißt es da, vor mehr als 100 Jahren also, “ist über­all gekannt und geehrt, wo das Herz des Volkes für die Frei­heit schlägt und wird so bald nicht verhal­len”. Temme hieß der Mann; Jodo­cus Dona­tus Huber­tus Temme.

Nur aus einer Laune suchte ich nun im Berli­ner Stra­ßen­le­xi­kon nach einem Nach­hall dieses Namens. Fast wollte ich es nicht glau­ben. Nicht weit von der klei­nen Kirche Mariä Himmel­fahrt, an der Sakrower Land­straße, wo die Straße immer länd­li­cher wird, biegt nach Osten eine Straße ab, die tatsäch­lich nach meinem Temme heißt. Als wir an diesem sonnen­schö­nen Mitt­woch­nach­mit­tag dort ange­kom­men sind, erfasst mich Rührung. Der Name ist wirk­lich nicht verhallt. Alle die Leute, die hier wohnen, schrei­ben viel­fach im Jahr mit ihrer Adresse den Namen des aufrech­ten Jodo­cus Temme; “leut­se­lig im tägli­chen Umgang, aber eine Eiche im Sturme der Zeiten”.

Der Temme­weg ist nicht irgend­eine Straße, sondern eine beson­ders schöne. Eine Linden­al­lee, zwei Fahr­bah­nen, die eine kopf­stein­pflas­t­rig, gest­rig, die andere glatt und heutig, Fußwege auf beiden Seiten und — völlig über­ra­schend — seit­wärts abzwei­gende Neben­wege, die sich zu Plät­zen erwei­tern, in einem fast laby­rin­thi­schen Quar­tier des Blühens und Pran­gens.

“Und nun erzähl! Wer war dieser Temme wirk­lich?” Als L. das sagt, sind die Neben­wege des Temme­we­ges aber schon Neben­wege des Sethe­we­ges gewor­den. Und dass hier eine Straße nach Paul Sethe heißt, ist auch unge­wöhn­lich. Die Geschichte von Jodo­cus Temme ist viel länger als sie dieser schöne Sonnen­tag, an dem wir inmit­ten des Temme­schen Neben­we­ge­sys­tems auf einer Bank sitzen, verträgt: Ein West­fale, Rich­ter, wie gesagt, 1839 Zwei­ter Direk­tor des Krimi­nal­ge­richts in Berlin, 1844 wegen oppo­si­tio­nel­ler Äuße­run­gen, aber immer­hin durch Beför­de­rung aus Berlin nach Tilsit entfernt, Vize­prä­si­dent des Ober­lan­des­ge­richts Müns­ter; zwei­mal wegen poli­ti­scher Äuße­run­gen verhaf­tet, 1850, zwei Jahre nach der Revo­lu­tion, in einem großen poli­ti­schen Straf­pro­zess frei­ge­spro­chen, aber trotz­dem vom preu­ßi­schen König seines Amtes entho­ben, ohne Pension, des Landes verwie­sen; in Zürich, in der freien Schweiz, wurde er der erste große Krimi-Schrift­stel­ler der deut­schen Lite­ra­tur. Nach Deutsch­land kehrte er nie zurück.
Weiter unten, nach­dem die Linden­al­lee endete, verengt sich der Temme­weg und biegt nach Norden ab. Die Leute, die oben so schön wohnen, sind — stelle ich mir vor — viel­leicht Ehepaare aus Amts­rich­ter und Ober­stu­di­en­rä­tin, Rechts­an­walt und Lehre­rin, Apothe­ker und Psycho­the­ra­peu­tin, oder einfach beide Ober­stu­di­en­räte: A 14 + A 14 = A 28 = 15.000 DM monat­lich, keine Sozi­al­bei­träge, Staats­bei­hilfe bei Krank­hei­ten und später Pension.

Später wird die waldige Gegend sozu­sa­gen öffent­li­cher. Auch einige Wohn­blocks tauchen auf, aus deren oberen Fens­tern die Mieter die Havel sehen, zu der wir nun über den Weg “Am Roten Stein” hinab­schlen­dern.
Paul Sethe — um auf den Sethe­weg zurück­zu­kom­men -, erzähle ich unten am Wasser auf einer Bank, von der wir die Bless­hüh­ner bei ihren kurzen Begat­tun­gen beob­ach­ten, Paul Sethe musste die Heraus­ge­ber­crew der FAZ verlas­sen, weil er für Wieder­ver­ei­ni­gung durch Verstän­di­gung war. In den 50er und 60er Jahren sprach man darüber häufi­ger als darüber, dass Sethe in der Nazi-Zeit etwas weni­ger verstän­dig gewe­sen war.
“Sagen wir mal”, sagt L., “er war ein Mann, der aus Fehlern gelernt hat. Also hat er’s verdient, dass eine Straße an ihn erin­nert. Stra­ßen sind ja nicht nur für Helden …” Stra­ßen­na­men sind fast für gar nichts. Dass nach einem eine Straße heißt, heißt ja beileibe nicht, dass man was von ihm weiß. Oder auch nur wissen müsste.

Damit sind wir über die Imchen­al­lee bis zu Riviera gekom­men. In diesem italie­ni­schen Garten­lo­kal, wo die Ober lässig über die Wiese schlen­dern, warten wir auf die Fähre aus Wann­see. Sie kommt jede Stunde. Diese 20 Minu­ten, die das Schiff der BVG über die Havel nach Wann­see fährt, vergisst niemand, der mit seiner Liebs­ten an Deck unter der Maisonne saß und den Reihern auf Imchen zusah. Verweile doch …, möchte man sagen, wenn man nicht wüsste, wie es Hein­rich Faust ergan­gen ist.
Die Fähre fährt gerade bis zum S‑Bahnhof Wann­see. Mit der S7 ist man von hier in 20 Minu­ten wieder mitten in Berlin.
Aber die Mitte von Berlin ist gar nicht allein in seiner Mitte.
Auch auf der BVG-Fähre F10 ist sehr viel Mitte. Oder im Temme­weg.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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