Unverstandene Untergrundkunst

Dass U‑Bahn-Fahr­ten in Berlin oft eine Qual sein können, ist bekannt. Gründe dafür gibt es viele, z.B. grölende Punks, aggres­sive Schnor­rer, nach Schweiß duftende Mitmen­schen oder Leute, die derma­ßen laut in ihr Handy brül­len, dass man den Eindruck hat, Privat­sphäre sei für sie uner­träg­lich. Und dann gibt es noch die Musi­ker. Oder die, die sich dafür halten. Da ich mich wegen einer Verlet­zung einige Tage weder mit dem Fahr­rad, noch mit dem Auto durch Berlin bewe­gen konnte, musste ich in dieser Woche einige längere Wege mit der U‑Bahn absol­vie­ren. Dort wurde mir das Elend dieser Fort­be­we­gungs­art wieder krass vor Augen geführt: Offen­bar haben Gitarre, Akkor­deon oder Flöte spie­lende Leute über­haupt keine Scheu mehr, andere offen­siv zu beläs­ti­gen. Anders kann ich es mir nicht erklä­ren, dass sie sich lärmend und aufdring­lich weder durch böse Blicke noch durch Worte davon abhal­ten lassen. Doch anders als sonst, hatte ich dies­mal keine Lust, die Tortur schwei­gend über mich erge­hen zu lassen und habe protes­tiert. Insge­samt drei­mal habe ich die “Musi­ker” in entspre­chen­der Laut­stärke aufge­for­dert, leiser zu spie­len, so dass man sich z.B. noch mit jeman­dem unter­hal­ten kann. Ich habe nicht verlangt, dass sie aufhö­ren, immer­hin versu­chen sie ja auf diese Art Geld zu verdie­nen, aber ich wollte diese Geräusch­be­läs­ti­gung genauso wenig erdul­den, wie ich nie an eine Auto­bahn oder einen Flug­ha­fen umzie­hen würde.
Die Prot­ago­nis­ten waren: Ein Akkor­de­on­spie­ler osteu­ro­päi­scher Herkunft, ein Gitar­rist inkl. Sänger (ich schätze aus Kanada oder den USA) sowie eine deut­sche Fagott­spie­le­rin. Alle­samt sind sie in einer Laut­stärke aufge­tre­ten, die jeden Versuch zunichte machte, sich z.B. auf ein Buch zu konzen­trie­ren. Gesprä­che waren erst recht nicht möglich.
Die Reak­tion der Musi­ker auf meine Bitte, etwas leiser spie­len, war über­all gleich: Verständ­nis­vol­les Nicken und Weiter­spie­len in der glei­chen Laut­stärke. Inter­es­sant war das sehr unter­schied­li­che Verhal­ten der ande­ren Fahr­gäste.
Der Akkor­de­on­spie­ler, wahr­schein­lich Rumäne oder Bulgare, hat offen­sicht­lich auch die ande­ren genervt. Kaum hatte ich mich beschwert, kam Zustim­mung von mehre­ren Perso­nen. Teil­weise aller­dings in einem aggres­si­ven Ton, der eher Rassis­mus vermu­ten lässt, statt nur gestör­tes Kultur­emp­fin­den. Es war mir schon fast pein­lich, diesen Leuten einen Vorwand zu liefern, sich so zu äußern.
Ganz anders bei den beiden Ameri­ka­nern, die mit Gitar­ren­be­glei­tung Weisen von Bob Dylan darbo­ten. Gleich nach meiner Bitte schlug der libe­rale Mob zu, glück­li­cher­weise nur verbal. Wenn mir die Musik nicht gefalle, könnte ich ja den Wagen wech­seln (dumm nur, dass die beiden danach in den nächs­ten Waggon gegan­gen sind und ich dann stän­dig auf der Flucht vor ihnen gewe­sen wäre). Viel­leicht hatten sie auch nur ihren Fanclub dabei, jeden­falls schau­ten mich einige Mitrei­sende demons­tra­tiv fins­ter an und titu­lier­ten mich einen Spie­ßer.
Derma­ßen mora­lisch gestärkt traf ich dann auf der Rück­fahrt die Lady mit dem Fagott, ein Instru­ment, mit dem man übri­gens sehr laute Geräu­sche machen kann! Dies­mal war es mein Fehler, ich hatte sie ja schon beim Einstei­gen bemerkt und mich direkt neben sie gesetzt, aller­dings war sie in diesem Moment ganz still. Doch sofort nach dem Schlie­ßen der Tür ging es los, und zwar nicht nur laut, sondern extrem falsch, was selbst mir Musik-Unkun­di­gem offen­sicht­lich war. Der Zug war voll und nach weni­gen Sekun­den beschwerte ich mich über die Laut­stärke. Dann zeigte sich, dass das Maß indi­vi­du­el­ler Tole­ranz unmit­tel­bar mit der Geschlecht und der sexu­el­len Ausrich­tung zusam­men­hängt: Während mich einige Frauen bestärk­ten und sich eben­falls beschwer­ten, began­nen mehrere Typen demons­tra­tiv mit der Musik mitzu­wip­pen, mit den Fingern zu schnip­pen und so zu zeigen, dass sie die Darbie­tung gut fanden. Erwähnte ich schon, dass die Fagot­tis­tin nicht nur jung, sondern sicher körper­lich sicher auch recht attrak­tiv war? In der kurzen Zeit zwischen dem Gleis­drei­eck und dem Nollen­dorf­platz sah ich jeden­falls mehrere grin­sende Männer­ge­sich­ter sowie einen gestreck­ten Mittel­fin­ger in meine Rich­tung. Ein Pärchen direkt neben mir begann sich zu strei­ten, weil die Frau eben­falls der Meinung war, dass die laute Musik eine Beläs­ti­gung darstellt, während der Mann das ernst­haft als Kunst bezeich­nete.
Sicher sind diese Erfah­run­gen nicht reprä­sen­ta­tiv, und im Prin­zip habe ich auch nichts gegen Musik in der Bahn, wenn sie denn ein gewis­sen Laut­stär­ke­le­vel nicht über­schrei­tet. Viel­leicht soll­ten sich Sozio­lo­gen des Themas “Reak­tio­nen von Mitrei­sen­den auf laute Musik in der U‑Bahn” anneh­men, so rich­tig mit Alters­be­rück­sich­ti­gung, Torten­dia­gram­men und so. Ich aller­dings bin froh, dass ich wieder eini­ger­ma­ßen mit dem Fahr­rad fahren kann, wenn vorläu­fig auch nur mit einer Hand. Aber lieber so, als noch­mal die Qual der Bahn.

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Zufallstreffer

Erinnerungen

An der Oberbaumbrücke

Als Kreuz­ber­ger Pflanze bin ich nahe der Grenze zu Ost-Berlin aufge­wach­sen. Die Mauer war für mich normal, so wie die Ruinen, die abge­schnit­te­nen Stra­ßen­bahn­schie­nen und die großen Schil­der “Sie verlas­sen jetzt West-Berlin”. Bei manchen schrie­ben […]

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