In der Kantstraße 158, gleich neben der Fasanenstraße, stand ein Haus, das aus dem Bewusstsein der Menschen heute völlig verschwunden ist. Hier wurden bis 1943 Details der Deportationen zigtausender Juden aus dem ganzen Deutschen Reich organisiert. Dies jedoch nicht von Nazis, sondern von Juden selbst. Begonnen hatte es schon zehn Jahre zuvor.
Bis 1933 waren Juden nicht unbedingt organisiert. Zwar gab es jüdische Sport- und Kulturvereine und selbstverständlich die religiösen Gemeinden. Überall dort war man natürlich freiwillig Mitglied, aufgrund des Glaubens oder der persönlichen Interessen. Das sollte sich jedoch nach der Machtübergabe an die Nazis ändern.
Im Spätsommer 1933 hatten fast alle bedeutenden jüdischen Organisationen sowie alle größeren Kultusgemeinden eine landesweite gemeinsame Interessenvertretung gegründet, die “Reichsvertretung der Deutschen Juden”. Ihr Präsident wurde der Berliner Rabbiner Leo Baeck. Ihre Ziele waren die Unterstützung des Zusammenhalts, die jüdische Selbsthilfe und — in realistischer Einschätzung der kommenden Verhältnisse — die Vorbereitung der Emigration nach Palästina. Es folgten mehrere erzwungene Namenswechsel (“Reichsvertretung …”, “Reichsverband …”, “Reichsvereinigung der Juden in Deutschland”). 1938 wurde für alle Glaubensjuden die Mitgliedschaft in dem Verband Pflicht. Er verwaltete die Immobilien derjenigen Gemeinden, die aufgrund der Auswanderung dazu nicht mehr selbst in der Lage waren. Wer in die Emigration ging, musste einen Teil seines Vermögens an den Verband abgeben, der damit verarmte Mitglieder unterstützte. Da Juden in vielen Berufen nicht mehr arbeiten durften, waren viele auf diese Unterstützung angewiesen. Die Reichsvereinigung organisierte auch Schulunterricht, da jüdische Kinder keine staatlichen Schulen mehr besuchen durften. Sie organisierte Kleiderkammern und brachte obdachlose Mitglieder in sogenannten “Judenhäusern” unter.
Am 4. Juli 1939 dann wurde aus der als Interessenvertretung der Juden gegründeten Organisation ein Werkzeug der Nazis. Reichssicherheitshauptamt (RSHA) und Gestapo übernahmen die Kontrolle. Ab sofort war die Reichsvereinigung nur noch Befehlsempfänger der Gestapo. Alle Personen, die nach den Nürnberger Gesetzen als Juden galten, wurden in der Reichsvereinigung zwangsweise eingegliedert. So hatten die Nazis die meisten Juden in einer Organisation unter Kontrolle.
Das RSHA beschrieb die Aufgaben der Reichsvereinigung 1939 so: “Der einzige Zweck der Organisation und der ihr eingegliederten Einrichtungen soll die Vorbereitung der Auswanderung der Juden sein.” Doch aus der Auswanderung wurden zwei Jahren später Deportationen. Bis dahin versuchte der Verband, möglichst vielen Juden bei der Flucht aus Deutschland behilflich zu sein. Ab 1941 jedoch musste er sogar bei den Deportationen mitwirken. Die Mitarbeiter der Reichsvereinigung versuchten dabei, Deportationen zu verzögern, aber letztendlich konnten sie diese nicht verhindern.
Die Mitwirkung des Verbands an den Deportationen ging so weit, dass er sogar entsprechende Listen zusammen stellte. Er stellte eigene Kriterien auf, wer abgeholt werden sollte, stellte Deportationsbefehle zu, und in einigen Fällen holten seine Mitarbeiter die Opfer sogar aus ihren Wohnungen ab. Die Reichsvereinigung organisierte auch die Sammelstellen, von denen die Opfer zu den Deportationsbahnhöfen gebracht wurden.
Doch all das Buckeln half ihnen nichts: Im März 1943 standen die Leitung und die Mitarbeiter der Reichsvereinigung selbst auf den Listen und wurden abgeholt. Die Organisation wurde im Juni aufgelöst, ihre Zentrale in der Kantstraße geschlossen.
Postkarte:1
Handstempel “Rückantwort nur über die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland Berlin-Charlottenburg 2, Kantstr. 158”; maschinenbeschriebene Postkarte vom 14. Mai 1943 von der Mutter Ester aus Theresienstadt an ihren Sohn Horst Berkowitz in der Erwinstraße 3 in Hannover.
- Quelle der Postkarte: Horst Berkowitz, ein deutsches Schicksal, hrsg. von der Motivgruppe Deutsche Geschichte e.V. („Philatelistische Arbeitsgemeinschaft im Bund Deutscher Philatelisten (BDPh) und im Verband Philatelistischer Arbeitsgemeinschaften (VPhA) mit der Fachstelle Thematische Philatelie“, zuletzt abgerufen am 20. September 2013. Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 über Wikimedia Commons — http://is.gd/onYAyx [↩]
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