“Können Sie sich ausweisen?”

Borsigstraße, 1985

Wegen der Namen. Ursprüng­lich wollte ich diesen Spazier­gang wegen der Namen unter­neh­men: Schle­gel, Nova­lis, Eichen­dorff, Tieck. Tieck, den Schrift­stel­ler — einer von Deutsch­lands größ­ten, wie Arno Schmidt ihn bezeich­nete — und Tieck, den Bild­hauer, Söhne eines Berli­ner Seilers. Ich kann sie mir hier gut vorstel­len: Tieck viel­leicht in dem groß­fenst­ri­gen Garten­haus Schle­gel­straße 2, Shake­speare lesend, Shake­speare: “Ein Sommer­nachts­traum”, Über­set­zung: August Wilhelm Schle­gel, Urauf­füh­rung: Pots­dam Neues Palais 1843, Regie: Ludwig Tieck, Musik: Felix Mendels­sohn Bartholdy; diese rührende Bühnen­mu­sik, die der 34-Jährige mit densel­ben schwe­ben­den Akkor­den enden lässt, mit der der 17-Jährige die Ouver­türe begon­nen hatte, damals im Garten­haus in der Leip­zi­ger Straße.
Ich komme mit der U6. Diese U‑Bahn hat nicht nur einen Bahn­hof “Stadt­mitte”, sie führt über­haupt unter der mittigs­ten Mitte von Berlin hindurch. Mitti­ger kann man nicht sein als in dieser U‑Bahn. Die Bahn­höfe — je reno­vier­ter sie sind — machen umso mehr den Eindruck rezi­pro­ker Häuser, z.B. jetzt der Bahn­hof Orani­en­bur­ger Tor, der lang­sam schon wieder­erkenn­bar ist: die grün­blauen Stahl­trä­ger, die rot leuch­ten­den Abfall­con­tai­ner, die gelben Fahr­schein-Auto­ma­ten, die Rücken an Rücken stehen mit oran­ge­far­be­nen Kolle­gen.

Ich steige von unten herauf. Der erste Blick fällt auf die post­mo­derne Glas­kup­pel des Hauses Chausseestraße/Oranienburger Straße: Das ist die Kuppel von Burger King, dem Boulet­ten-König; dahin­ter die goldene Kuppel der Synagoge, die der “beherzte Revier­vor­ste­her” vor den Nazis geret­tet hatte, so dass die Englän­der oder Ameri­ka­ner sie zerbom­ben muss­ten.
Darf man in solchen Konse­ku­tiv­sät­zen denken? Nein! Ich habe immer gedacht: nein. Die Bomben der Alli­ier­ten waren gute Bomben, es waren Bomben gegen den Faschis­mus. Heute bin ich ein alter Mann, der das Leben behal­ten möchte, also denke ich: Bomben sind Bomben mit Bomben­schuld. Ich muss nicht die Bomben der 40er Jahre beur­tei­len, das sollen die Histo­ri­ker tun, ich denke an die heuti­gen Bomben. Sie sind böse.
Wer Bomben wirft, wird durch Bomben umkom­men. Mit solchen Gedan­ken biege ich aus der Torstraße (Wilhelm Pieck ist gestri­chen, und die Wilhelm­straße weiter unten heißt nicht nach Wilhelm Pieck: aber wer will, kann’s ja glau­ben) ein in die Borsig­straße.

Ich sehe zwischen den Plat­ten­bau­ten, in denen hinter den Fern­seh­schüs­seln die Menschen wohnen, die Golga­tha­kir­che. Ich betrachte ausführ­lich die Fassade der Kirche und des ästhe­tisch ange­schlos­se­nen Pfarr­hau­ses mit dem knie­en­den Engel, der unter ausge­brei­te­ten Flügeln die Vorüber­ge­hen­den segnet, die Verwei­len­den viel­leicht nicht, wie ich gleich erfah­ren werde. Ich erin­nere mich an die Zeit, in der wir um die Ecke Günter Gaus besuch­ten in der Hanno­ver­schen Straße; da sah die DDR für uns aus wie ein rich­ti­ger Staat, vor dessen Poli­zei man Angst zu haben hat.“Vernichtet die Poli­zei”, steht jetzt gegen­über ange­sprayt, aber das stammt nicht von damals. Wenn man wirk­lich gegen die Poli­zei vorge­hen muss, erlaubt sie den Schü­lern nicht, Paro­len an die Wände zu schrei­ben. “Ich weiß keine Paro­len mehr”, hat ein nach­denk­li­cher Sprayer in einem ande­ren Haus­ein­gang vermerkt.

Im Hof der Golga­tha­kir­che arbei­tete (und arbei­tet wohl noch) das Evan­ge­li­sche Konvikt. Das ist nun, denke ich im Anblick dieser Pasto­ren­schule, die Gegend, aus der die Inte­rims-Außen­mi­nis­ter hervor gingen, diese liebens- und lobens­wer­ten Leute, mit den dich­ten Bärten und der anspruchs­vol­len Spra­che; jetzt halten sie sich auf den mitt­le­ren Bundes­tags­bän­ken und auf den mitt­le­ren Seiten west­deut­scher Wochen­zei­tun­gen. Ich kann so gut ironisch über sie reden wie über mich. Einige von ihnen nenne ich jetzt “Genos­sen”; ich bin viel länger Sozi­al­de­mo­krat als sie, uns sie zucken noch immer ein unmerk­li­ches biss­chen zusam­men, wenn sie das Wort hören, das wir uns von der SED nicht klauen lassen woll­ten: eine Beharr­lich­keit, deren sozia­len Wert wir nun selber nicht mehr reali­sie­ren. Einer wie ich muss sich Mühe geben, von den Erin­ne­run­gen, die hier aufkom­men, nicht im hervor­he­ben­den Unter­ton der 68er Jahre oder die Bürger­recht­lich­keit zu reden; am Satz­ende begänne die Eigent­lich­keit. Zwischen Bier­mann (Chaus­see­straße 131) und Dieck­mann (Konvikt, Borsig­straße) liegen wohl Entfer­nun­gen, die größer sind als die geogra­phi­schen damals, aber alles zusam­men (und die eige­nen Irrtü­mer ehrli­cher­weise dazu­ge­zählt): Ein Nischen­deutsch­land. Auch unsere Wirk­lich­keit ist eine Wirk­lich­keit, aber keine sehr reprä­sen­ta­tive, es tun sich in ihr zu viele Ritzen auf in die Inner­lich­keit, in die einer und eine schnel­ler abge­stürzt ist, als sie sich versa­hen: Christa Wolf, eine andere Ina Seidel?

Unter solchen Gedan­ken, von denen hier jeder sieht, dass sie geord­net werden müss­ten, habe ich die Straße über­quert. Meinen klei­nen Schreib­block in der Hand — ich habe schon hunderte Vorgän­ger voll­ge­schrie­ben — bin ich durch die Torein­fahrt des Konvikts, in den ersten Hof gelangt, ich höre hinter den Fens­tern Klavier üben, stehe eben im Durch­gang zum zwei­ten Hof, in dessen Hinter­grund ich eine gemüt­li­che Bank sehe, auf die ich mich von Anfang an nicht zu setzen gewagt hätte, da fällt mir wie ein Wurf­ge­schoss eine Eichel vor die Füße, einen Moment denke ich: eine Hasel­nuss.
“Ist das eine Hasel­nuss?” sage ich zu der großen Frau, die plötz­lich vor mir steht. “Eine Eichel”, sagt sie verächt­lich, weil sie mir offen­bar nicht glaubt, dass ich ihr eine ernst­hafte Frage gestellt habe.
“Was wollen Sie hier? Ich beob­achte Sie schon die ganze Zeit.” Verwirrt von der aggres­si­ven Unfreund­lich­keit der lang­be­klei­de­ten jungen Frau versu­che ich mich zu entschul­di­gen und verspre­che meinen unver­züg­li­chen Rück­zug, da sehe ich, dass mir der Rück­weg durch einen jungen Mann versperrt ist, es könnte ein Jung­pfar­rer sein, er sieht aus wie eine junge Ausgabe derer, an der ich eben auf der ande­ren Stra­ßen­seite gedacht habe. “Was machen Sie hier!” ruft er. “Sie schrei­ben sich Namen auf!” In zuneh­men­der Verwir­rung reiche ich ihm mein Notiz­buch, dass er sich über­zeuge: keiner­lei Namen. Aber ich fühle mich ertappt. Wegen der Namen.

Ich kam tatsäch­lich wegen der Namen. Wegen ganz ande­rer Namen aller­dings, und während mir klar wird, dass ich diesen jungen Zukünf­ti­gen nicht von der Harm­lo­sig­keit meiner Absich­ten werde über­zeu­gen können, habe ich ein Erleb­nis der Zeit­ver­schie­bung. Denn nun werde ich gefragt: “Können Sie sich auswei­sen?” Ich habe einen Dienst­aus­weis der Innen­ver­wal­tung in der Tasche. Mir wird blitz­ar­tig klar, welche Bestä­ti­gung ich mit diesem Plas­tik­kärt­chen gege­ben hätte. Können Sie sich auswei­sen — die berühmte Anfangs­frage, mit der manche DDR-Schi­kane begon­nen hatte. Daran erin­nere ich mich ncht mehr. Ich würde mich weigern, irgend­ei­nen von den wieder­zu­er­ken­nen, die damals nach solcher Frage ihre Macht­spiel­chen trie­ben. Als die Stasi das Konvikt in der Borsig­straße begut­ach­tete, muss­ten sich, die drin­nen saßen, verfolgt, aber sie durf­ten sich auch wich­tig fühlen. Jetzt kommt niemand mehr, der sich ihre Namen aufschreibt und in ihre Predig­ten drängt, der Athe­is­mus des Landes ist wieder was ganz Norma­les. Dass ich gekom­men bin mit einem klei­nen Spiral­buch, taugt nicht fürs Erin­nern. Ich bin auch gleich wieder gegan­gen.
In Annas rühren­dem Papier­wa­ren­ge­schäft in der Schrö­der­straße (gehen Sie da doch auch mal hin) habe ich den Stift gekauft, mit dem ich diesen Text geschrie­ben habe im Cafe Malete.
Das ist eines der beiden Kaffee­häu­ser, von denen Wolf Bier­mann heute umrahmt wäre, wenn er noch wohnte, wo man ihn damals nicht wohnen lassen wollte. Jetzt wird er nicht mehr wollen. Heute ist es dort viel­leicht ein biss­chen zu laut für anda­lu­si­sche Gitar­ren.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

Foto: Gerd Danigel, Wiki­me­dia Commons, CC BY-SA 4.0

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