33 Jahre alt war der indische Chemie-Ingenieur Tapeshwar Nath Zutshi, als er im Sommer 1962 mit der S‑Bahn nach Ostberlin fuhr, um den Hals ein Schild mit der Aufschrift: “Menschen hinter dem Eisernen Vorhang! Der erste Schritt zur Freiheit — legt Eure Furcht ab und sprecht die Wahrheit!” Zutshi wurde verhaftet und nach fünf Tagen Verhör wieder in den Westen abgeschoben. Diese Aktion machte ihn bekannt, aber er hatte Größeres vor und wollte dafür auch andere Menschen begeistern. Er wollte zum ersten Mauerspecht werden.
Zutshi hatte seine Aktion vorher angekündigt: Im Sinne seines Vorbildes Mahatma Ghandi wollte er in der Bernauer Straße gegen die Mauer vorgehen. Direkt an der Stelle, wo die Versöhnungs-Kirche von ihrer Gemeinde getrennt war, plante Zutshi mit einem Meißel die Mauer abzureißen. Auch wenn ihm bewusst war, dass es eher ein symbolischer Akt war, nahm er eine erneute Festnahme und vielleicht sogar Gefängnis in Ostberlin in Kauf. Zusammen mit dem rechtslastigen Kölner Professor Berthold Rubin aus Köln benachrichtigte er die Öffentlichkeit von seiner geplanten Aktion.
In den Tagen zuvor gab es in Westberlin an der Uni bereits mehrere Veranstaltungen dazu und auch der Berliner Senat beschäftigte sich damit. Immerhin handelte es sich hierbei nicht nur um einen privaten Protest, denn schon hatten internationale Pressevertreter darüber berichtet.
Zutshi, der sich als Weltbürger, nicht als Inder, vorstellte, hatte Gandhis Geburtstag zum Tag der Aktion auserkoren, den 2. Oktober. Zuvor kündigte er sie auch noch schriftlich bei Walter Ulbricht an: “Die Mauer beweist, dass Sie an der Macht sind ohne Billigung der Bevölkerung … Ich fordere Sie auf, genauso auf mich zu schießen, wie Sie schamlos auf unbewaffnete Flüchtlinge geschossen haben.”
Am Tag vor der Aktion wurde sie vom Westberliner Innensenator Albertz verboten. Er sagte, dass es ihm um die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit gehe, nicht um den Schutz der Mauer. In der Nacht zum 2. Oktober wurde Berthold Rubin dann dabei erwischt, wie er an der angegebenen Stelle damit begonnen hatte, die Mauer mit einem Meißel zu bearbeiten. Er wurde von der Westberliner Polizei festgenommen.
Am Mittag des 2. Oktober 1962 versammelten sich dann etwa tausend Westberliner, vor allem Jugendliche und Studenten. In der Bernauer Straße direkt vor der Versöhnungs-Kirche. Zutshi und Rubin waren ebenfalls da und erklärten vor der Presse, dass sie die Aktion nicht machen werden, sich stattdessen aber nun jedes Wochenende hier zum beten treffen wollen und sie riefen dazu auf, sich daran zu beteiligen. Während der etwa zwei Stunden dauernden Versammlung an der Mauer wurde eine improvisierte Andacht gehalten.
Die französische Militärpolizei sowie die westberliner Polizei hatten zu diesem Zeitpunkt umfangreiche Maßnahmen getroffen, um jede Demonstration zu verhindern. An der Hussitenstraße waren sechs Mannschaftswagen sowie mehrere Lautsprecherwagen aufgefahren. Sie drängten die Menschenmenge zurück und hinderten sogar einige Studenten am Aufspannen eines Transparents. Darauf stand ein Satz aus der DDR-Verfassung über die Freizügigkeit. Ein Anhänger Zutshis, der vor der Versöhnungs-Kirche in einen Sitzstreik getreten war, wurde festgenommen.
Die Ostberliner Behörden hatten am Vormittag dieses Tages an der Bernauer Straße ihre Grenzposten verdoppelt. Im Glockenturm der Versöhnungs-Kirche wurde ein schweres Maschinengewehr in Stellung gebracht und die ständigen Posten im Kirchturm verstärkt. Hinter der Mauer fuhren Wasserwerfer auf.
Am folgenden Wochenende waren dann etwa 300 Personen dem Aufruf Zutshis gefolgt und sie sammelten sich zur schweigenden Demonstration vor der Versöhnungskirche. Zwischendurch wurden aber auch christliche Lieder gesungen und — als die Ostseite mit Übertragungen von kommunistischen Liedern reagierte — sang man “Brüder zur Sonne, zur Freiheit”. Aus einem Lautsprecherwagen vom “Studio am Stacheldraht”, das ihm der Senat zur Verfügung gestellt hatte, sprach Zutshi zu seinen Anhängern.
In der ostberliner Presse reagierte man natürlich sehr scharf und diskreditierte Zutshi. Trotzdem hatte dieser es geschafft, viele hundert junge Menschen gewaltfrei gegen die Unmenschichkeit der Mauer zu mobilisieren.
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