Von dem Vormittag, der jetzt in der Gormannstraße endet, hatte ich eine literarische Vorstellung. Es ist Mai; ich wollte mir ein Lorbeerblatt pflücken am Grabe E.T.A. Hoffmanns. Dann wollte ich an der E.T.A. Hoffmann-Promenade vorbei, mit Blick auf das alte Kammergericht, das der vielseitige Kammergerichtssrat ausgemalt hat, die Friedrichstraße aufwärts bis zum Gendarmenmarkt gehen: zu diesem schönsten Platz der Welt, an dem Hoffmann gegenwärtiger ist als sonst irgendwo in Berlin.
Das gelbe Reclamheft mit “Des Vetters Eckfenster” sollte ich bei mir haben. Für mich ist das einer der lebhaftesten Texte der deutschen Literatur: So sah der sterbende Hoffmann auf dem Gendarmenmarkt herab. Wo jetzt Schinkels Schauspielhaus steht, stand die Königliche Oper; sie brannte ab, als die erste deutsche romantische Oper dort aufgeführt wurde: Undine, Text von Fouqué, Musik von Hoffmann, in einem Bühnenbild von Schinkel. Aber Hoffmann war gar kein Romantiker. Ein Mann außerhalb der Kategorien, der Lehrbücher, auch der Schulbücher (glücklicherweise: Er ist jetzt der gelesenste Autor seines Jahrhunderts; die Lehrer konnten ihm nicht viel antun).
Von hier aus — das war mein Plan — wollte ich die Linden entlang, über den Lustgarten, auf den Monbijouplatz, um Chamisso zu grüßen und die Rosenthaler Straße aufwärts zu wandern bis zum Garnisons-Friedhof, wo Fouqué begraben liegt.
Aber es war zu kalt. Ich bin mit der S‑Bahn zur Station Hackescher Markt gefahren, die früher nach der Börse und dann nach Karl Marx hieß: Da wäre es schon passender gewesen, man hätte die Station nach dem Polizisten Wilhelm Krützfeld genannt, der die große Synagoge vor den Mordbrennern geschützt hat (die aber auch Berliner waren und vielleicht auch Nachbarn).
Ich stehe vor dem Haus des Jüdischen Kulturvereins und blicke hinüber auf die vergoldete Kuppel.
Gegenüber: Oranienburger Straße 34, ein tobender Bauplatz; die Kräne von H. Klemmt, die den Gründersitz der Bank für Sozialwirtschaft wieder aufbauen, ragen höher in den Himmel als der Turm der Sophienkirche, zu deren Füßen Ranke begraben ist, der Staats-Historiker mit dem ehrenhaften, aber unglücklichen Gedanken: die Vergangenheit zu beschreiben wie sie wirklich war (und diese Wirklichkeit in den Akten zu suchen wie der Pastor Gauck; auch da brauchten wir wohl einen Mommsen).
Ich muss einen kleinen Schritt vom Wege gehen, um einen kleinen Stein auf Moses Menselssohns Grab zu legen an der Großen Hamburger Staße. Diesen Stein hatte ich auf dem Friedhof der Jerusalems- und Neuen Kirchgemeinde auflesen wollen: nicht weit von Hoffmanns Grab an dem von Felix Mendelssohn Bartholdy: ein Steinchen vom Grab des berühmten Enkels zum Grab des berühmten Großvaters; Moses Mendelssohn und die Seinen: wenn sie eine Tradition hätten liefern dürfen in Deutschland und nicht nur ein kurzes Zwischenspiel neben sogenannten Befreiungskriegen und Vormärz, was wäre das für ein Land, in dem wir lebten!
Das Stadtquartier um die in Hochglanz neu erstehenden Hackeschen Höfe lohnt den umgehenden Besuch. Diese Mischung aus Verfall und Wiederaufbau, aus Erinnerung und Vergessen wird es nicht mehr lange geben. Barfuss oder lackSCHUH, dort noch einen glänzenden Schuh dann Engel Bestattungen: einen schöneren Namen kann eine Bestattungsfirma nicht haben. Einsturzgefahr annonciert die Hausverwaltung für den Hof von Rosenthaler Straße 38, wo das ZK der KPD schulpflichtiges Alter erreichte.
Die eiserne Wendeltreppe in Rosenthaler Straße 36 führt zum Verlag Neues Leben, dessen Name hier angenehm ironisch wirkt, wie der des Hauses gegenüber “Rote Apotheke”, die wirkliche Apotheke im Haus heißt “Berolina”, Berlin und rot? Die Stadt hat keineeindeutige Farbe; die politische Farbenlehre verlangt jetzt schillernde Farben, deren Töne nicht mit einfachen Adjektiven zu beschreiben sind.
Den Platz, den die Rosenthaler Straße gegen Norden nun bald mit der Kleinen Rosenthaler Straße und der Mulackstraße bildet, will ich den Platz der Kulturen nennen. Wenn man sich nur ein bisschen länger umsieht, kann man die Lebenskultuen unterscheiden, die sich hier begegnen. Die Kleine Rosenthaler hieß einst Todtengasse, sie begrenzt seit 1722 den Garnisons-Friedhof; die Straße auf seiner östlichen Seite hieß Wüste Gasse: Tod und Wüste, dazwischen die Begräbnisstätten von Offizieren und Gemeinen, noch im Tode nach Dienstgraden getrennt. (Im Häuschen des Friedhofswärters — von außen besprayt mit der Parole: Werft mehr Steine! — hat die Robert-Bosch-Stiftung ein kleines Heimatmuseum ermöglicht. Es lohnt sich.) Das ist der Friedhof, auf dem Fouqués Gebeine in das verwandelt werden, was wir alle waren und sein werden. Ihn besuche ich. Die stärkste Vergegenwärtigung, die er in Berlin findet; seine Bücher liest ja kaum noch jemand. Außer “Undine” lohnt es sich auch nicht. Aber “Undine”, das ist sein Stück Unsterblichkeit; Fouqué hat den Namen erfunden, den schönen Mädchennamen Undine. Und diese zarte Wassergestalt, die ihn zuerst trug, die Märchenfrau aus anderem Element als der Erde, aus der wir gemacht sind; sie musste die Menschen lieben, die es so wenig zu lieben lohnt.
Unsterblichkeit? Es gibt ein komisches Foto: Der gewesene Kultursenator (ein Jurist wie ich), im schönsten Beerdigungsschwarz, begleitet vom (früheren) Bezirks-Bürgermeister, ebenfalls in schönem Trauerschwarz, stehen da mit gefalteten Händen und gesenkten Köpfen vor Fouqués Grabmal an seinem 150. Todestag. Da hätte der Senator lieber die Augen heben sollen zu der kleinen kranken Tanne, die nach meinem Gefühl besser eine Kiefer wäre, zu der wilden Birke und hinüber zu der braungrau in italienischem Stil verfallenden Ruine, und statt zu denken, woran weiß ich, hätte er fragen sollen, warum dieser Friedhof, auf dem doch überwiegend Berufskiller begraben sind, so tut, als ob er Ehrenmänner beherbergte. Hinten, an der südöstlichen Ecke, ruhen aber auch ein paar Opfer. Das ist das schönste Stück des Friedhofs. Es grenzt an den Kaffeegarten des Brazil. Die polnische Widerstandskämpferin Sonia Horn, tragisch zu Tode gekommen in unserer Stadt Berlin, keine 22 Jahre alt, könnte an unserer Lebensfreude teilnehmen, wenn wir dort in dem brasilianischen Garten im Grünen säßen und unsere Lippen sich immer näher kämen, wie jetzt die rosigen feuchten Lippen des eleganten brasilianischen Paares am Tisch mir gegenüber; der Mann trägt schöne goldene Ohrringe; die Frau, die ihn jetzt küsst, ist älter als er, eine Undine vielleicht, deren Seele durch seine Liebe lebt.
Das ist das Brazil, in den Nächten tost hier das Leben, viele Undinen und vor allem viele junge Menschenfrauen, die nicht aus Wasser sind. Tagsüber ruhig, ein lohnender Ort. Wenn Sie jetzt herein kämen, liebe Leserin, lieber Leser, würden Sie mich sehen, wie ich diesen Text schreibe.
Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)
Ein Spaziergänger durch Berlin sollte wissen, daß dort, wo heute der Schinkelbau steht, niemals die Kgl.Oper stand. Im Langhans- und nach dessen Brand im Schinkelbau spielte das Kgl.Nationaltheater, in dem allerdings zuweilen auch Opern aufgeführt wurden (“Undine”, “Freitschütz”), die die Hofoper nicht wollte.Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß das Nationaltheater ein Schauspielhaus war.Die Kgl.Oper stand immer Unter den Linden!
Warum müssen Leute, die mal etwas besser wissen, oft so arrogant auftreten? Ich weiß was Herr Lehrer!!! Kann man nicht auf freundliche Art auf einen Irrtum hinweisen?
Siehste!