Dircksen nur für Damen

Dircksenstraße

Dircksen­straße, das ist die Adresse des alten Poli­zei­prä­si­di­ums; dort, wo sie in den Alex­an­der­platz über­geht, verkauft im S‑Bahn-Bogen ein Geschäft elek­tri­sche Geräte. “Nur Miele kennt das Geheim­nis ewiger Jugend” steht im Fens­ter; unauf­merk­sam lese ich “Mielke”; ich erschre­cke über die Selbst­ver­ständ­lich­keit, mit der ich ein nicht vorkom­men­des k gele­sen habe und frage mich, ob der Satz aus dem Unter­be­wusst­sein viel­leicht gülti­ger ist als der Satz aus dem Schau­fens­ter: die staat­li­che Über­wa­chung, kontrol­lierte büro­kra­ti­sche Verzet­te­lung alterte nie, wäre immer da und bliebe, was sie von Anfang an war? Den Fata­lis­mus verbiete ich mir.
Im Poli­zei­wa­gen auf dem Bürger­steig sitzen die Poli­zis­ten, als seien sie die Eigen­tü­mer der Straße und des Plat­zes. Zwei Frauen gehen vorüber. “Der Staats­schutz hat ihm die Schlüs­sel wegge­nom­men”, sagt die eine zur ande­ren. “Zu mir hat er gesagt: Er hat sie verlo­ren.” Ich habe den Eindruck, dass es umge­kehrt war. Ich setze zur Über­que­rung der Lieb­knecht­straße an. Unter der S‑Bahn ein Wand­bild von 1986 von “den Arbeits­ge­mein­schaf­ten des Pionier­pa­las­tes Ernst Thäl­mann”; ein Zeit­zei­chen aus einer fernen Zeit. Die Menschen, die damals in einer der Arbeits­ge­mein­schaf­ten mitge­malt haben, sind immer noch junge Leute und haben doch schon eine Vergan­gen­heit, die weit zurück liegt, viel weiter als die zehn Jahre, die auf dem Chro­no­me­ter vergan­gen sind. Die gemal­ten Bilder verschwin­den unter den Signa­tu­ren der Sprayer, die auch bemalte Flächen unter ihre indus­tri­el­len Farben legen.

In dem schö­nen Eckhaus Nr. 35 gibt es was zu vermie­ten; aber vermut­lich nur Läden, ich hätte gern oben eine Wohnung, damit ich mitten drin wäre. Hier kreuzt die, Rosa-Luxem­burg-Straße. Ich habe keinen Teil meines Lebens denen opfern müssen, die den Namen dieser klei­nen Frau für vieles und zu vieles bean­sprucht haben; er ergreift mich aber fast jedes­mal. Ich denke an Paul Levi, den juris­ti­schen Berufs­kol­le­gen, der sich, aus Kummer über den uner­setz­li­chen Liebes­ver­lust, am Lützow­ufer aus dem Fens­ter seiner Anwalts­kanz­lei stürzte, um zu ster­ben, wo sie gestor­ben war, unter dem Kommando eines Akade­mi­ker-Söhn­chens ermor­det, verra­ten von den alten sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Genos­sen, die nun zu regie­ren mein­ten. Ich bin auch Sozi­al­de­mo­krat, die Partei regiert, meint zu regie­ren, will dabei sein. Wobei?
Die Geschichte und die Gegen­wart müss­ten sich so auftun lassen, wie das Häuser­kar­ree aufge­tan ist, in das man über den Park­platz Einblick hat, der dem in die Bauge­schichte einge­gan­ge­nen Haus der BVG gegen­über liegt. Bendzko, der Groß­mak­ler, teilt an der großen freien Wand mit, dass er auch “Rück­über­tra­gungs-Ansprü­che” kauft: ein Wort aus 25 Buch­sta­ben, gezeugt aus einer ille­gi­ti­men Liai­son des Kapi­ta­lis­mus mit der Minis­te­rial-Büro­kra­tie. Ein Stück die Dirck­sen­straße weiter: das nächste Gegen­warts­wort, am Haus der Wohnungs­bau-Gesell­schaft Mitte: “Wohn­raum­erst­be­wer­bung”: “Wohn­raum­erst­be­wer­bung bitte Eingang Roch­straße benut­zen … Ab sofort findet die Vergabe von Ausbau­woh­nun­gen auf dem Wege der schrift­li­chen Bewer­bung statt … Die Ausgabe und Entge­gen­nahme von Bewer­bungs­bö­gen erfolgt montags zwischen 9 bis 16 Uhr über das Wach­per­so­nal Dirck­sen­straße”. Ich frös­tele unter der Sonne. Die Mittei­lun­gen sind nur der Vorder­grund der Spra­che, hinter den Mittei­lun­gen liegen Anschau­un­gen, Gesin­nun­gen.

In der Roch­straße blühen die Vogel­beer­bäume. Den “komple­xen Baube­trieb” von Marc­zin­kow­ski und Engel­hardt kenne ich schon vom S‑Bahn-Vorüber­fah­ren. Jetzt lerne ich, dass im Hinter­haus, rech­ter Eingang, drit­ter Stock die Firma R. Elfen­bein domi­zi­liert; Karten- und Lager­käs­ten sein1870 von Hand gefer­tigt, “stark und lang­le­big wie ein Elefant, schön und wert­voll wie Elfen­bein”, dane­ben eine “Wiking GmbH”, über die ich mir meine Gedan­ken mache, und der “Bienen­korb”, in dem die 0,33-l-Flasche Bier eindeu­tig zehn Mark kostet. Über die benach­barte Baustelle sehe ich an einem Hinter­haus ein Trans­pa­rent mit einem einzi­gen Wort: “meins”, schade, dass das Haus nicht meins ist.

Neben dem Cafe Seiden­fa­den im Durch­gang zum Hof, der bald im post­mo­der­nen Hacke­schen-Hof-Chic glän­zen wird, verweist die verblas­sende, unvoll­stän­dige Inschrift “Sally Rosen­berg & Reben…otsch…Fabrik” auf eine Vergan­gen­heit, die nicht mehr wieder­kommt (wie jede Vergan­gen­heit), aber diese Vergan­gen­heit führte über­haupt zu keiner Gegen­wart; gegen­über in der Neuen Prome­nade haben Mendels­sohns gewohnt, in der Klei­nen Präsi­den­ten­straße nebenan der Nazi-Orts­grup­pen­füh­rer Wasku­leit, ein unifor­mier­ter Mörder: einer von den vielen Lands­leu­ten, die die Haupt­stadt der Deut­schen für immer verwan­delt haben. Sie steht auf unsi­che­rem mora­li­schen Boden, man kann ihrer nicht sicher sein, was gesche­hen ist, kann sich wieder­ho­len; woher hätten wir die gegen­tei­lige Sicher­heit?
Im Cafe Seiden­fa­den bekomme ich keinen Milch­kaf­fee gegen meine Melan­cho­lien. “Das ist hier nur für Damen”, sagt die Frau, die mir entge­gen­kommt, sobald ich nur den Fuß auf die Schwelle gesetzt habe. Das verstehe ich. Die hier haben auch Angst. Im “Irish Pub” unter dem Bahn­hof Hacke­scher Markt, der einst­mals Marx und Engels im Namen führte und ursprüng­lich die Börse, die auch verschwun­den ist, begrüßt mich vom Neben­tisch die freund­li­che Pres­se­spre­che­rin der Humboldt-Univer­si­tät. “Was machen Sie denn hier?”, fragte sie, als ob man beson­dere Grün­den benö­tigte, um hier auszu­ru­hen und die eige­nen Düster­nisse von denen der Stadt zu sondern.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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