Andere Erinnerungen

Jahres­tage sind Erinne­rungs­zeiten, in den Medien sieht man Zeit­zeu­gen und Zuspät­ge­kom­mene und natür­lich die Histo­ri­ker, die angeb­lich neutral und seriös jeden Vogel­schiss der betref­fen­den Tage deuten. Zum 25. Jahres­tag des Mauer­falls kann man in Berlin dem Erin­ne­rungs­t­s­unami nicht entkom­men. Die halbe Stadt ist Feier- und Gedenk­zone, so voll waren die Stra­ßen nicht mal am 9. Novem­ber 1989. In Zeitun­gen, Rund­funk, Blogs: So viel Mauer­fall war nie.
Das gilt genauso für die Medien, die uns rund  um unser 9/11 mit einer Über­do­sis Geden­ken quäl­ten. Doch meine Erin­ne­run­gen bestehen nicht nur aus Waaaaahn­sinns­geg­röhle. Im Spät­herbst ’89 gab es auch eine Reali­tät, die nicht in den Geschichts­bü­chern steht, weil sie einfach zu banal ist.

Bran­den­bur­ger Tor, West­seite, die breite Mauer steht noch. Nur etwa 20 Perso­nen verlie­ren sich hier in der Straße des 17. Juni, die da noch eine Sack­gasse ist. Fast alles Touris­ten. West-Berli­ner Poli­zis­ten passen auf, dass niemand mehr am Beton klopft, die volks­ei­ge­nen Kolle­gen sehen von der Mauer­krone herab und müssen als Foto­mo­tiv herhal­ten. Der Wind bläst nasses Laub über den Platz, unspek­ta­ku­lär sind diese Aufnah­men von ca. Mitte Novem­ber.

Pots­da­mer Platz, mehrere Mauer­ele­mente stehen an der Seite, ein provi­so­ri­scher Grenz­über­gang ist einge­rich­tet, doch kaum jemand nutzt ihn. Wieder Touris­ten, 50, 60, sie foto­gra­fie­ren den hell­blauen Trabant, das einzige Fahr­zeug, das die Grenze passiert. Schade nur, dass er von West nach Ost fährt, anders­rum wär’s ein besse­res Motiv.
Ein paar Leute winken, die Fern­seh­bil­der der letz­ten Tage im Kopf, sie erwar­ten wohl ausge­las­sene Eupho­rie. Der Trabi­fah­rer aber schaut gelang­weilt, wie ein Affe, der die Zoobe­su­cher beob­ach­tet.

Kudamm am 9. Novem­ber. Auf den vollen Stra­ßen gröh­len junge Männer die erste Stro­phe der Natio­nal­hymne, nicht sehr text­si­cher, dafür laut. Zu viel getrun­ken haben auch die Frauen, die unter­ge­hakt in einer Kette über den Bürger­steig ziehen wollen, aber nicht durch­kom­men. Geschrei, Anpö­be­leien, Belei­di­gun­gen, klir­rende Glas­fla­schen, ekel­hafte Stim­mung.

Irgend­wann im Novem­ber. Ein Mauer­op­fer der beson­de­ren Art ist der voll­trun­kene, viel­leicht 14-jährige Junge, der von Vopos über die Grenze getra­gen und dem West-Poli­zis­ten in die Arme gelegt wird.
Das Ehepaar, das sich in brei­ten thürin­gi­schen Dialekt beschwert, dass es die Waren bei Hertie am Halle­schen Tor nicht umsonst kriegt oder wenigs­tens für DDR-Mark. Das ist der Beweis, dass nicht nur der Westen deka­dent ist.
Die vollen Busse und U‑Bahnen werden uner­träg­lich. Zahl­rei­che Fahr­zeuge aus ande­ren Städ­ten werden einge­setzt, trotz­dem kann man auf den Innen­stadt­li­nien kaum atmen, so über­füllt sind die Wagen. Fahr­schein­kon­trolle auf einem Bahn­hof. Auch Ost-Berli­ner sollen zahlen, einige beschimp­fen die BVG-Ange­stell­ten als Stasi-Schweine. Dumm­heit kennt eben keine Gren­zen.
Ein Obdach­lo­ser geht am Schle­si­schen Tor an einer langen Schlange warten­der DDR-Bürger vorbei, die dort an einer Bank 100 DM Begrü­ßungs­geld abho­len wollen. Sie glot­zen ihn entgeis­tert an, manche halten ihre Taschen mit beiden Händen fest. Die Bedürf­tig­kei­ten sind hier wohl eindeu­tig verscho­ben.

In Filmen und in der Reali­tät sind Fami­li­en­fei­ern oft das Gegen­teil von dem, was sie sein soll­ten. Alle strei­ten sich, Mutter weint, Vater brüllt, die Nichte zickt rum und nach ein paar Stun­den sind alle froh, dass es endlich wieder vorbei ist. Irgend­wie erin­nert mich der Novem­ber 1989 daran. Die Tage des Mauer­falls waren nicht so glän­zend, wie sie heute darge­stellt werden. Große Ereig­nisse sind oft so banal, wenn man sie nicht nur im Fern­se­hen sieht.

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1 Kommentar

  1. Lieber Aro!

    Der Arti­kel stammt von einem ECHTEN Berli­ner. Ich bin auch sehr benom­men und fast wie gelähmt durch die ersten Wochen unse­rer verein­ten Stadt getau­melt. Auch ich erin­nere mich sehr gut an das Chaos und mache bizarre Situa­tion welche hier herrsch­ten. Beson­ders mit dem Taxi war in den folgen­den Jahren kaum ein Durch­kom­men, auch wenn die Auftrags­lage glän­zend war.

    Meine Eltern müssen wohl genau wie Du empfun­den haben, denn sie wander­ten 1992 nach Tene­riffa aus. Von der verein­ten Stadt hatten sie nach 3 Jahren endgül­tig genug und kamen nie mehr zurück!

    Das beste Beispiel von der Verklä­rung durch die Medien ist für mich die Rede von Herrn Kohl am 10. Novem­ber vor dem Rathaus Schö­ne­berg, wo ich anwe­send war. Man konnte nichts davon hören — so laut wurde er dort ausge­pfif­fen. In den heuti­gen Beiträ­gen ist dieses Pfei­fen fast wegge­mixt. Aber die Gänse­haut bei der Rede von Willy Brand hatte ich live! Ein magi­scher Moment in meinem Leben. Nicht nur wir beide muss­ten eine kleine Träne vergie­ßen.

    Frohe Weih­nach­ten!

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