Auch ein bisschen wütend

Fabrik in der DDR

Im Jahr der Wieder­ver­ei­ni­gung reiste ich mit meiner Video­ka­mera durch ganz Deutsch­land, um mit Menschen in Ost und West über ihre Erfah­run­gen seit der Wende zu reden. Die Gesprä­che im Osten haben mich beson­ders beein­druckt, und mehr als 30 Jahre später haben sie in meinen Augen ihre Aussa­ge­kraft nicht verlo­ren.
Wie das der meis­ten Bundes­bür­ger war mein Bild von der DDR vom Kalten Krieg und den west­li­chen Medien geprägt. Man neigte dazu, die “Brüder und Schwes­tern” drüben zu bedau­ern, weil es ihnen mate­ri­ell nicht so gut ging wie uns in der BRD und weil sie hinter der Zonen­grenze und der Berli­ner Mauer einge­schlos­sen waren. Dabei hatte man keine Ahnung, wie das Leben in der DDR eigent­lich aussah, und konnte deshalb auch nicht wissen, dass es neben den offen­sicht­li­chen Schwie­rig­kei­ten doch auch eini­ges an Gutem und Posi­ti­vem gab.
Wie man an den Debat­ten in den Medien heute immer wieder erken­nen kann, ist die Verstän­di­gung von Ost und West bei weitem noch nicht abge­schlos­sen. Das liegt unter ande­rem daran, dass die meis­ten Bürger im Westen von der Geschichte der DDR und den Verän­de­run­gen seit der Wende so gut wie keine Ahnung haben und deshalb die Menschen im Osten, die ihr vertrau­tes Leben aufge­ben und eine neue Exis­tenz aufbauen muss­ten, nicht wirk­lich verste­hen können.
Die Gesprä­che, die ich im Jahr 1990 mit dem Mana­ger einer Braue­rei und zwei Fabrik­ar­bei­tern an der Zonen­grenze sowie einem jungen Studen­ten­paar in Halle geführt habe, können viel­leicht auch heute noch helfen, das Verständ­nis zu fördern. Ich habe Auszüge für diesen Text tran­skri­biert.

Der Mana­ger einer Braue­rei: “Das ist unser natio­na­les Schick­sal, unser natio­na­les Problem, das Zusam­men­le­ben unter den neuen Umstän­den, unter noch nicht bewäl­tig­ter Vergan­gen­heit. Und es gibt da eigent­lich zwei Vergan­gen­hei­ten zu bewäl­ti­gen, die Vergan­gen­heit bis 1945 und die Vergan­gen­heit nach 45. Und der, der heute sagt, die Vergan­gen­heit bis 45 sei bewäl­tigt und ließe sich losge­löst von der Vergan­gen­heit nach 45 betrach­ten, der geht an den Reali­tä­ten vorbei.
Die Tatsa­che, dass die DDR der führende Staat im Ostblock war – es war ja eine wirt­schaft­li­che Macht vor der Einheit, vor der Wende, nach­ge­wie­se­ner­ma­ßen, aller­dings auf ande­rem Niveau als die Bundes­re­pu­blik war und ist –, das spricht an sich auch für die Tatsa­che, dass hier gear­bei­tet worden ist, in der DDR, und dass wir nicht so schlecht waren, wie das jetzt allge­mein auszu­se­hen scheint.
Es werden verschie­dene Struk­tu­ren direkt in den Schmutz getre­ten, zum Beispiel die Agrar­struk­tu­ren, die eigent­lich vorteil­haft sind, wenn sie rich­tig geführt werden. Beim rich­ti­gen Manage­ment, bei der rich­ti­gen Orga­ni­sa­tion und Logis­tik lässt sich aus diesen doch über 20 Jahre gewach­se­nen Struk­tu­ren in der Land­wirt­schaft sehr viel mehr machen als bei der mittel­stän­di­schen bäuer­li­chen Struk­tur in der Bundes­re­pu­blik. Aber es kann ja nicht sein, dass irgend­was, das im Sozia­lis­mus gewach­sen ist, besser ist als das, was aus der freien Markt­wirt­schaft kommt.”

Der Fabrik­ar­bei­ter: “Das sieht man ja bei uns im Handel auch. Jetzt tut unser Handel ja nur noch Produkte aus dem Westen nehmen. Und unsere Produkte, die wir herge­stellt haben, die sieht man gar nicht mehr im Laden. Ich mein, die könnt’ man ja billi­ger anbie­ten. Aber nein, das gibt’s nun gar nicht mehr.”

Und damit wird die Produk­tion zerstört?

“So tun sie die Betriebe kaputt machen. Die Betriebe müssen buch­stäb­lich auf die Straße gehen und müssen auf der Straße verkau­fen. Aber so weit denken die nicht und denken nur an sich zuerst mal.”

Und da werden jetzt die ehema­li­gen Partei­bosse die neuen Chefs.

“Das sind’s doch! Die als Partei­ge­nos­sen hier herge­setzt worden sind, im Partei­auf­trag, die machen jetzt wieder die…”

…die werden jetzt Kapi­ta­lis­ten!

“…die erst die großen Kommu­nis­ten waren. Wir war’n die Klei­nen. Jetzt sind die die Mana­ger.”

Das Studen­ten­paar, Er: “Wir haben uns also bemüht, diesen Akt der deut­schen Einheit nicht wie ursprüng­lich von uns beiden vorge­se­hen an uns vorbei­plät­schern zu lassen, sondern wir woll­ten in aller Form diesem Akt, der für uns schon ein Ekel war, der Akt selber war für uns ein Ekel, in die Pupille schauen.
Wir fuhren also nach Berlin und haben uns so schnell wie möglich auf den Alex bege­ben und unter die feinen Leute gemischt, uns es war wie gesagt auch ganz witzig, wir können das nicht verheh­len, es war also nicht außer­or­dent­lich unan­ge­nehm, weil – so wie ich das empfun­den hab, zumin­dest –, es wenig natio­na­lis­ti­sche Stim­mung dort gab.
Das will ich nicht sagen, aber die Stim­mung war eben so wie 40 Jahre DDR oder wie 1. Mai oder wie Honecker, hoch, hoch, sie war bier­se­lig und sie war zuwei­len ja auch ein biss­chen klein­lich scha­den­froh. Es waren Leute, die sich voller Freude oder Scha­den­freude vor die Plas­ti­ken von Marx und Engels stell­ten und ihre Bier­fla­schen endlich mal auf dem Schä­del von Karl Marx zerschla­gen konn­ten und ihm das Deutsch­land­lied ins Gesicht gröl­ten.
Das er natür­lich kennen musste, ja, das Deutsch­land­lied, er kannte es zumin­dest, na ja gut, solche niede­ren Freunde gab’s natür­lich auch, aber ansons­ten war’s ’ne ausge­las­sene Stim­mung, kann man nicht anders sagen. Die wir ja sicher­lich, ich konnte sie nicht teilen, die ausge­las­sene Srim­mung, aber ich konnte nun nicht weinen.
Na, mir ist so, als wäre mir mein Land wegge­nom­men worden, das ist wahr, das empfind’ ich schon. Deshalb hab ich nun keine nost­al­gi­sche Wehmut oder bin trau­rig, bin eher ein biss­chen nervös und auch ein biss­chen wütend.”

Wütend?

“Ja, wütend. Ich will auch gleich sagen, warum. Sicher­lich ist, was wir hatten, zum großen Teil eine Zumu­tung – war es ja doch, kann man schon sagen. Vor allem vom persön­li­chen Lebens­ge­fühl ist es schon eine sehr große Zumu­tung gewe­sen. Aber natür­lich, es war nicht alles schlicht und einfach schlecht, das Böse, ist ja einfach Quatsch. Und wütend bin ich vor allen Dingen deshalb, weil sich jetzt Leute – ich will das nun gar nicht irgend­wie sozial klas­si­fi­zie­ren – weil sich jetzt Leute hier die Früchte der Ergeb­nisse dieser Umwäl­zung zunutze machen und ganz einfach die Herr­scher aus der Bundes­re­pu­blik hier etwas nieder­wal­zen, was viel­leicht doch origi­nel­ler war als man hüben wie drüben denkt. So, und dass wir … das wir uns – ich hab auch eine gewisse Wut, ich bin auch heute ein biss­chen wütend, dass wir nicht die Kraft gefun­den haben, uns in einer Art und Weise dage­gen zu stem­men, die nicht nur verneint, sondern die zugleich ein konstruk­ti­ves Moment hat.”

Sie: “Mit dieser Einheit von zwei Staa­ten – ich hab auch den Eindruck, ich glaub’, ich hab noch nicht rich­tig begrif­fen, dass jetzt tatsäch­lich ein ganz bestimm­ter Abschnitt vorbei ist; und dass jetzt gera­dezu Unglaub­li­ches, dass jetzt in Mittel­eu­ropa ein Staat auf einmal weg ist. Vor allem, weil ich nicht den Eindruck habe, dass zwei Staa­ten weg sind und etwas Neues entstan­den ist, sondern ich hab den Eindruck, ein Staat ist weg und der andere ist größer gewor­den.
Auf die Art und Weise ist für meine Begriffe die Möglich­keit für die Entwick­lung einer bestimm­ten Idee, die bestimmte Möglich­keit, etwas Neues zu machen, auch eine Alter­na­tive zu schaf­fen, erst­mal weg, und das auf lange Sicht. Und ich weiß nicht, ob das, was wir jetzt gekriegt haben, und das, was jetzt entstan­den ist, ob das mir in vielen Fällen hilft oder nicht hilft, obwohl ich bereit bin, das als eine Chance zu begrei­fen”

Die Gesprä­che stam­men aus dem 50 Minu­ten langen doku­men­ta­ri­schen Video “Gesamt Deut­sche Grenz Wande­rung”, das ich kürz­lich auf YouTube hoch­ge­la­den habe. Die Begeg­nun­gen waren weit­ge­hend spon­tan, die hand­ge­hal­tene, oft etwas wacke­lige Kame­ra­füh­rung kann irri­tie­rend wirken, aber das war mein Stil. Leider habe ich mir keine Adres­sen aufge­schrie­ben. Ich hätte gerne noch einmal mit den Menschen gespro­chen, die ich damals traf.

Jan Bruck

Foto: Bundes­ar­chiv, Bild 183‑1987-0108–003 / Lehmann, Thomas / CC-BY-SA 3.0

[ Dieser Text erschien zuerst in der Berli­ner Zeitung und steht unter der Lizenz CC BY-NC-ND 4.0 ]

 

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