Unheimliche Radikalisierung

Der Schul­freund war früher ein Ungläu­bi­ger. Heute ist er Isla­mist und Verfas­sungs­feind. Ein Tref­fen vier Jahre nach dem Abitur.

Es gibt verschie­dene Arten von Schul­freun­den. Mit manchen zerstrei­tet man sich, andere ziehen in die Ferne und kommen nicht wieder, wieder andere blei­ben ein Leben lang. Die meis­ten aber sind genau das, was der Name andeu­tet: Schul­freunde. Wenn die Schul­zeit endet, endet auch die Freund­schaft.

Vor kurzem saß ein Schul­freund in meiner Küche, der jetzt Isla­mist ist. Ich habe ihn freund­lich begrüßt, ein paar Freunde von mir waren da, wir haben gemein­sam gefrüh­stückt. Dass er Isla­mist sei, davon hatte ich gehört. Warum, das wusste ich nicht. Er war zu mir gekom­men, um das zu erklä­ren, ich hatte ihn einge­la­den, weil ich neugie­rig war. Ich hatte ihn seit Jahren nicht gese­hen. Er trägt jetzt einen langen Bart, schaut freund­lich, wie immer, lacht selte­ner als früher, wirkt erns­ter. Ich habe mich gefreut, ihn zu sehen.

Vor vier Jahren stan­den wir grin­send neben­ein­an­der auf unse­rem Abschluss­ball. Ein Juni­tag, sonnig, wir waren jung und trugen das erste Mal Anzug, fühl­ten uns wich­tig und erwach­sen. Erst als die Sonne wieder aufging, fuhren wir heim. Nach dem Abi jobbte ich mit ihm in der Bäcke­rei seines Vaters. Danach verlo­ren wir uns aus den Augen.

Er reiste nach Austra­lien und Neusee­land, um die Schön­heit der Welt einmal ganz nah zu haben. Als er zurück nach Deutsch­land kam, begann der Corona-Lock­down und nichts war mehr schön. In der Isola­tion guckte er stun­den­lang fern, daddelte am Handy und an der Spie­le­kon­sole, irgend­wann ging er mit dem Tablet schla­fen. Er war unzu­frie­den, mit sich, mit seinem Leben, erzählte er uns, er hatte viele Fragen, aber kaum Antwor­ten. So ging es eine Zeit lang. Bis er anfing, nach einem Sinn zu suchen.

Einla­dung zum Tee

Er habe uns etwas mitge­bracht, sagte er, und holte aus seinem Ruck­sack ein klei­nes, buntes Buch, es sah aus wie ein Kinder­buch. Auf dem Cover umkreist der Koran unsere Erde. In dem Buch würden „Neuin­ter­pre­ta­tio­nen“ stehen, sagte er, von grund­le­gen­den wissen­schaft­li­chen Erkennt­nis­sen der Neuzeit. Der Entwick­lung des mensch­li­chen Embryos zum Beispiel, der Entste­hung von Meeren und Flüs­sen, dem Ursprung des Univer­sums. In seiner Sinn­su­che hatte er seine Reli­gion, den Islam, neu entdeckt. Die scheuß­lich großen Fragen, die ihn während der Isola­tion heim­ge­sucht hatten, waren mit einem Schlag beant­wor­tet: Allah kennt alle Fragen, und auch alle Antwor­ten.

Ich kenne diesen Schul­freund, seit wir kleine Jungs waren. Wir spiel­ten bis zur A‑Jugend gemein­sam Fußball, wohn­ten im selben Dorf, gingen auf dieselbe Grund­schule, später aufs selbe Gymna­sium. Er ist in Deutsch­land gebo­ren, seine Eltern waren aus Afgha­ni­stan geflüch­tet. Die Fami­lie ist musli­misch, lebt aber deutsch, „verwest­licht“ nennt er das heute. In der Schule war er beliebt. Er hatte viele weib­li­che Freunde, aber seine Reli­gion verbot ihm, ein deut­sches Mädchen zu lieben. Auch Alko­hol hat er nie ange­rührt.

Meine Eltern nahmen ihn oft im Auto zu Auswärts­spie­len mit. Sie nann­ten ihn ein „Vorzei­ge­bei­spiel für gelun­gene Inte­gra­tion“. Manch­mal, wenn wir ihn nach Sieg oder Nieder­lage zu Hause absetz­ten, kam der Vater strah­lend aus dem Haus und bat uns in gebro­che­nem Deutsch zum Tee herein. Wir fuhren oft gemein­sam mit dem Rad zum Fußball­trai­ning. Dort, wo sich unsere Nach­hau­se­wege trenn­ten, stand ein Apfel­baum, und manch­mal legten wir unsere Fahr­rä­der ins Gras und klet­ter­ten darin herum, bis ein Nach­bar heraus­ge­rannt kam und uns anbrüllte, wir soll­ten verschwin­den. Das ist meine schönste Erin­ne­rung an ihn.

Die deut­sche Verfas­sung, erklärte er uns beim Früh­stück, die sei menschen­ge­macht. Die „Scha­ria“ sei gott­ge­macht. Logisch, welchen Regeln zu folgen sei. Im Koran stehe, einem Dieb müsse zur Strafe die Hand abge­hackt werden, egal ob Kind, Frau, Greis, egal ob er die Hand zum Arbei­ten braucht, egal ob er einen Laptop oder eine Blume für die kranke Mutter gestoh­len hat. Ich fragte vorsich­tig nach, ob er das auch so sehe. Allah mache die Regeln, sagte er. Er sei allwis­send und allweise. Also sei daran nicht zu zwei­feln.

Ich musste an Sher­lock Holmes denken. Er beschreibt Glau­ben als „lächer­li­che Fiktion einfäl­ti­ger Menschen zur Über­tra­gung von Verant­wor­tung auf einen unsicht­ba­ren, magi­schen Freund“. Glück­lich macht ihn diese Über­zeu­gung nicht, Sher­lock Holmes ist ein einsa­mer Detek­tiv.

Mein Schul­freund ist nicht einfäl­tig und auch nicht einsam, eher höflich und klug, er schreibt gerade seine Bache­lor­ar­beit in Wirt­schafts­in­for­ma­tik. Ihn scheint die Über­tra­gung der Verant­wor­tung auf seinen magi­schen Freund Allah glück­lich zu machen, jeden­falls gibt sie seinem Leben einen Sinn. Und der ist so verfüh­re­risch, weil nichts mehr zu hinter­fra­gen ist: Er gibt man sich Allahs Allmäch­tig­keit, folgt man seinem Allwis­sen, erüb­rigt sich jede Frage nach einem Sinn. Allahs Antwor­ten sind perfekt und unwi­der­leg­bar. Vor allem aber sind sie tröst­lich. Selbst der Tod wird zur Geburt ins Para­dies.

Ich sehe ihn an, wie er an unse­rem Küchen­tisch sitzt und unsere frei­heit­li­chen Werte infrage stellt, wie er vom Verfas­sungs­schutz redet, der ihn Isla­mist nennt und seine Ausle­gung des Korans als extre­mis­tisch und verfas­sungs­feind­lich einstuft. Er stelle sich ein Kali­fat in Deutsch­land vor, sagt er, das unse­ren Rechts­staat erset­zen und die Menschen mit den 1400-Jahre alten Regeln des Korans zu einem ande­ren Leben zwin­gen werde. Auch für uns sei das besser, sagt er.

Ich versu­che unter dem Bart das Gesicht von früher zu erken­nen, das grin­sende Abiball-Gesicht. Gegrinst hat er fast immer, anste­ckend war das. Ich verstehe ihn. Auch ich habe während des Lock­downs vieles hinter­fragt. Ich fühlte mich mit meinen Gedan­ken ins Kinder­zim­mer einge­sperrt, wo ich doch eigent­lich da drau­ßen sein sollte, in der Welt und im Leben. Mein Ausweg aus der Sinn­lo­sig­keit war aber nicht der radi­kale Islam. Es gab keinen Ausweg, die Isola­tion gebar keinen Sinn, sie raubte bloß Zeit und Kraft und Freude.

Behü­te­tes Leben

Wir spra­chen noch eine Weile. Ich fragte, er antwor­tete, aber es drehte sich im Kreis. Es braucht Mut, sich in unsere Küche zu setzen und die Werte zu verach­ten, die ihm und mir 18 Jahre lang ein behü­te­tes Leben geschenkt haben, das dachte ich, als ich ihn da sitzen sah: der Schul­freund, der heute keiner mehr ist. Ich bewun­dere ihn nicht für diesen Mut. Mir kommt er vor wie ein Gold­fisch, der sich in ein Glas gesperrt hat, um sich die Welt nicht mehr erklä­ren zu müssen. Ich frage mich, ob er ins Glas zurück­sprin­gen würde, wenn jemand versu­chen würde, ihn daraus retten. Ich glaube, die Antwort auf diese Frage zu kennen, das macht mich trau­rig.

Beim Abschied sagte ich aus Gewohn­heit: „Bis bald.“ Er und einer meiner Freunde sagten darauf­hin ganz wunder­bar gleich­zei­tig: „Naja, das wissen wir noch nicht. Man sagt das ja immer so, aber wissen tut man es nicht.“

Einen Tag nach unse­rem Gespräch fragte dieser Schul­freund einen meiner Freunde, wie wir das Gespräch fanden. Er sei scho­ckiert, antwor­tete der Freund. Ich schrieb meinem Schul­freund, ich wolle ihn erneut tref­fen, ich hätte noch mehr Fragen. Die Nach­richt steht einsam in unse­rem Chat, unbe­ant­wor­tet bis heute. Denn heute, genau ein Jahr später, hat er zu nieman­dem mehr aus seinem alten Leben Kontakt. Seine Fami­lie zog in einen ande­ren Stadt­teil. Alle Verbin­dun­gen in die Vergan­gen­heit sind gekappt. Seine deut­sche Kind­heit ist wie ein Buddel­schiff in einer Flasche verstaut, zu einem notwen­di­gen Laster entfrem­det, um die dschi­ha­dis­ti­sche Zukunft zu recht­fer­ti­gen. Früher ein Ungläu­bi­ger, heute ein Heili­ger. Was er wohl denkt, wenn beispiels­weise in München eine Mutter und ihr Kind durch einen der Seinen ster­ben?

Jakob Goos

Jakob Goos ist 23 Jahre alt und studiert Rechts­psy­cho­lo­gie in Berlin. Gebo­ren und aufge­wach­sen ist er in Hamburg, jetzt wohnt er in Berlin-Dahlem

[ Dieser Text erschien zuerst in der Berli­ner Zeitung und steht unter der Lizenz CC BY-NC-ND 4.0 ]

print

Zufallstreffer

Weblog

Geistige Nachfolger

Gestern gab es im Amts­ge­richt Moabit einen Prozess, dessen Ergeb­nis zu Sorge Anlass gibt. Ange­klagt war der Geschäfts­füh­rer der Berli­ner VVN-BdA, Markus Tervoo­ren. Die VVN-BdA wurde nach dem Krieg von Über­le­ben­den der Nazi-Dikta­­tur gegrün­det, deshalb […]

Berlin

Lehrer fordern Schließung ihrer Schule

Dass Neukölln kein Pflas­ter für sensi­ble Gemü­ter ist, weiß man nicht erst seit dem Mord an einem Poli­zis­ten vor eini­gen Wochen oder dem Kino­film “Knall­hart”. Rausch­gift­han­del, Arbeits­lo­sig­keit, Vers­lu­mung, Stra­ßen­kri­mi­na­li­tät sind die Probleme zwischen Hermann­straße und […]

Schreibe den ersten Kommentar

Hier kannst Du kommentieren

Deine Mailadresse ist nicht offen sichtbar.


*