Von Adlershof zum Meer und zu den Schiffen

“Zwei Plätze gibt es in dieser mir gleich­gül­ti­gen Wohnung, die mich freuen. ein Eck im Fens­ter meines klei­nen Schlaf­zim­mers — Ruth sagt Kajüte -, ein Fens­ter-Eck, aus dem man weit raus sehen kann und sich einbil­den, dahin­ter läge das Meer und die Schiffe oder sonst was. Und gut ist auch, auf dem klein­win­zi­gen Balkon zu liegen, und ich gucke mir abends die Vögel an und frage mich, warum sie herum­flie­gen, und ich denke auch, dass so einen Flug die Menschen noch nicht erfun­den haben…” In der Wohnung, die die Schrift­stel­le­rin Anna Seghers 1977 so beschreibt, hat sie länger als ein vier­tel Jahr­hun­dert gelebt, von 1955 fast bis zu ihrem Tode. Damals Volks­wohl­straße, heute Anna-Seghers-Straße, Nr. 81: Anna-Seghers-Gedenk­stätte. Ein einfa­ches Miets­haus, enge Treppe, ganz normale Leute, im obers­ten Stock das Türschild: Seghers, Radvanyi. Ich klin­gele, fühle mich fast als Eindring­ling. “Anna Seghers ist gerade ausge­gan­gen, ich vertrete sie”, sagt die freund­li­che Archi­va­rin, das hat sie nicht zum ersten Mal gesagt.
Mit dem ersten Schritt bin ich in einem höchst priva­ten Ambi­ente, tatsäch­lich, als ob die Wohnungs­in­ha­be­rin gleich wieder­käme. Ihr Mann hat weni­ger Spuren hinter­las­sen. Sie war berühmt, er nicht. Der Ruhm der Frau, mit der er ein halbes Jahr­hun­dert verhei­ra­tet war, führt jetzt die Besu­cher auch in sein Schlaf­zim­mer. Die Archi­va­rin schal­tet die Stimme der Toten an. Die Atmo­sphäre wird immer bedrän­gen­der. Die Szene ist geis­ter­haft. Als ich gehe, mache ich mir flüchige Gedan­ken über “Gedenk­stät­ten”. Was ist der Sommer ohne die Flügel der Schwal­ben, was ist das Land ohne die Gräber der Dich­ter? Die Gräber, nicht die verlas­se­nen Wohnun­gen.

Es regnet, als ich wieder unten bin, Ecke Silber­ber­ger Straße. Jetzt werde ich in die Rich­tung gehen auf das Meer und die Schiffe, die Anna Seghers aus ihrem Schlaf­zim­mer vermu­tete. Weil alles erst rich­tig am Ufer anfing, was über­haupt etwas wert ist. Von der Florian-Geyer-Straße, am Däni­schen Betten­haus vorüber durch die post­mo­dern neue Markt­pas­sage auf den neuen Südost­teil des alten Mark­tes.
Gegen­über, östlich der Dörp­feld­straße, ein Gedenk­stein, ein schlan­ker Quader, der drei spitze, rote Drei­ecke trägt, das Signet der Verfol­gung, dane­ben ein roter Block, dahin­ter eine geweißte Bara­cke und rechts eine Imbiss­bude, Asia Imbiss, auf dem roten Block aus Kunst­stein die Inschrift: “Im Geden­ken an die helden­haf­ten Wider­stands­kämp­fer gegen die faschis­ti­sche Barba­rei. Ihr Vermächt­nis hat sich in der sozia­lis­ti­schen Deut­schen Demo­kra­ti­schen Repu­blik erfüllt”. Auf der Bank dahin­ter alko­ho­li­sie­ren sich Penner.

Gegen­über auf der West­seite wirkt der Markt­platz proper, Post­mo­derne des Konsums, ich sitze bei dem netten Italie­ner im Eiscafé. Der Brun­nen davor, eben­falls ganz neu, besteht aus sechs Stein­ku­geln, aus jeder von ihnen steigt ein mittel­star­ker Wasser­strahl auf, der in leich­tem Bogen dort nieder­fällt, wo auch die ande­ren Wasser aus den ande­ren Kugeln enden. Je mehr von diesen Wasser­aus­gän­gen man zuhält, umso höher stei­gen die offen blei­ben­den. Drei mit den Wassern spie­lende Kinder orga­ni­sie­ren sich im Wasser­ver­schie­ßen, holen sich schließ­lich sogar zwei vorüber­ge­hende Erwach­sene zu Hilfe, damit alle Wasser­aus­gänge verschlos­sen werden können bis auf einen, aus dem nun die Fontäne zu doppel­ter Höhe aufsteigt, um auf ihr Normal­maß zurück­zu­fal­len, wenn die ande­ren Wasser wieder betei­ligt werden. Schließ­lich über­kommt Über­mut die Kinder. Der Knabe steigt balan­cie­rend auf eine der Stein­ku­geln und stellt sich so auf, dass der Spring­brun­nen ihm wie eine riesige Piss­fon­täne durch die Beine spru­delt, und während er noch trium­phie­rend lacht, stauen die beiden Mädchen zwei andere Fontä­nen schnell zurück, so dass die, die dem Knaben eben für seine männ­li­che Demons­tra­tion diente, ihm so nahe kommt, dass er hastig absprin­gen muss, um nicht durch­nässt zu werden. Rasches Ende eines gestoh­le­nen Triumphs. “Ihr Arsch­lö­cher”, sagt er leise.
Es gibt Leute, die hier ausse­hen wie die Anna-Seghers-Straße, und es gibt Leute, die ausse­hen wie die Markt­pas­sage, in die sie Hand in Hand mit ener­gi­schen Schritte hinein­ei­len. Die italie­ni­sche Schla­ger­mu­sik macht mich melan­cho­lisch. In einem Schla­ger von Klasse liegt manch­mal mehr Jahr­hun­dert als in einer Monette. Er braucht gar nicht von Klasse zu sein.
Laufen ist ein gutes Mittel gegen Schwer­mut. Hinter dem verfal­len­den Eckhaus an der Wasser­mann­straße geht die Dörp­feld­straße ins Klein­städ­ti­sche über. Die Wald­straße begrenzte früher die bebau­ten Quar­tiere zur Köll­ni­schen Heide und führte im weiten Bogen um alle Häuser herum wieder zum Adler­ge­stell. Zwischen Verfall und Erneue­rung ist die Straße wieder ein typi­sches Stück Gegen­warts-Berlin, bis sie im reno­vier­ten und noch ganz unbe­spray­ten Eckhaus zur Fried­län­der Straße endet.

“Auf eigene Gefahr” gehe ich zwischen Bohlen­wand und Draht­zaun einen “Privat­weg” entlang ins Birken­wäld­chen der Heide, das sich nach Süden in den Fried­hof fort­setzt. Nur entfernte Menschen­laute. Ich gehe lange an dem Fried­hofs­zaun entlang, ehe ich einen Eingang finde. Mühe­los rührt der Pfiff eines Vogels an den Grund des Herzens und dadurch auch an die Wurzeln der Hand­lun­gen. Inmit­ten der brei­ten Mittel­al­lee dieses Toten­parks ein pathe­ti­sches Denk­mal, ein zusam­men­bre­chen­der Mann hebt das Gewehr über die Schul­ter in die Höhe, blickt auf, wohin? Vermächt­nis des Kämp­fers, Bronze von Hans Kies, von bösar­ti­ger Patina befal­len. “Dem Geden­ken der im Kampf gegen die Reak­tion gefal­le­nen Sozia­lis­ten von 1920”. Hinter dem Denk­mal Grab­steine, die jüngs­ten Toten 18, der älteste 63. Wer war 1920 die Reak­tion? Der preu­ßi­sche Innen­mi­nis­ter Wolf­gang Heine (SPD), dessen Poli­zei am 23. Januar 1920 auf die Arbei­ter schoss, die sich vor dem Reichs­tag versam­melt hatten, um ein einschrän­ken­des Betriebs­rä­te­ge­setz zu verhin­dern? Oder der Gene­ral­land­schafts­di­rek­tor Kapp und der Gene­ral Ehrhardt, dessen Frei­korps am 13. März in Berlin einmar­schierte und vor dem die Regie­rung floh, auch Noske und Ebert?
Mich ergreift die Melan­cho­lie der Geschichte. Ich kann heute nicht weiter­ge­hen nach Norden zum Wasser, wo viel­leicht die Schiffe liegen, nach denen die Altkom­mu­nis­tin Seghers aus ihrem Schlaf­zim­mer ausblickte. Die Schiffe, mit denen die Toten ins Verges­sen gefah­ren werden. Es gibt keine Lehren aus der Geschichte.
Es nützt nichts, dass Geschichte geschrie­ben wird. Alle Erfah­run­gen sind persön­lich.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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