Kieselstein zur Quelle

An Meyer­beer kann man nicht vorüber. Ich komme nicht seinet­we­gen auf den alten Jüdi­schen Fried­hof an der Schön­hau­ser Allee. Eine der schöns­ten Stel­len dieses trau­rig-schö­nen Berli­ner Ortes liegt in der Nord­al­lee, die an den Höfen der Wörther Straße entlang führt. Dieser Fried­hof ist ohne­glei­chen. Die Brand­mau­ern der Hofhäu­ser ragen als Stadt­pi­las­ter über die Gräber hinaus, oben die Leben­den, unten die Toten. Viele von ihnen sind leben­dig, sobald man die Zeiten öffnet.
Mitten in dieser Haupt­ge­schichts­al­lee liegt die Grab­stelle der Beers. Unter vier Ampho­ren ein offe­ner Raum, der seine Inti­mi­tät nicht verbirgt, mit seiner Öffent­lich­keit nicht prahlt, östlich, nach Westen blickend, Giacomo Meyer­be­ers Grab, seit dem 9. Mai 1864 ruht er hier, 16 Tage vorher war er in der Fülle seines euro­päi­schen Ruhmes in Paris gestor­ben, ihm gegen­über seine Frau, die aus Berlin stammte wie er und sich lebens­lang sehnte nach Berlin, neben ihm seine geliebte Mutter, eine der schöns­ten und reichs­ten Frauen Berlins, Freun­din Alex­an­der von Humboldts: Amalia (Malka) Beer; auf dem Gemälde von Carl Kret­sch­mar, das jetzt als Preu­ßi­scher Kultur­be­sitz geführt wird, blickt sie uns in ihrer jugend­li­chen Schön­heit an aus ihren großen braun-schwar­zen Augen. Über die Beers lassen sich Geschich­ten erzäh­len, wie über die Mendels­sohns, in denen ein deut­sches Bürger­tum sich wieder­erken­nen könnte, wenn nicht Rassen­hass und natio­na­ler Hoch­mut alles verdor­ben hätte.
Es ist ein windi­ger, unfreund­li­cher Febru­ar­tag. Der Sturm will mir das jüdi­sche Mütz­chen, das mir der freund­li­che Fried­hofs­wär­ter geie­hen hat, vom Kopf blasen. Es fällt mir schwer, mir jenen Maitag vor 133 Jahren vorzu­stel­len, als der präch­tigste Trau­er­zug, der je einen deut­schen Musi­ker zur ewigen Ruhe beglei­tete, hier ange­langte, er kam von Meyer­be­ers Berli­ner Haus, Pari­ser Platz 6, an der Oper vorbei, wo er verweilt und vom Opern­chor den Choral gehört hatte: Was Gott tut, ist wohl­ge­tan.
Ach, dieser Gott. Auf vielen Grab­stel­len dieses Fried­hoes unter den Efeu umrank­ten Pappeln wird seine Weis­heit gefei­ert und mutig die Über­zeu­gung ausge­drückt, dass er schon wisse, was er tut. Ich weiß nicht, ob ich diese Sicher­heit teilen kann. Neben dem Grab, dessent­we­gen ich eigent­lich gekom­men bin, liegt das Erbbe­gräb­nis der Simons: Ruth Veit Simon, Rolf, Sabine, Eva, Hedwig, gestor­ben, ermor­det in There­si­en­stadt, Maut­hau­sen, Ausch­witz: “In Gottes Hand ist die Liebe alles dessen, was lebt”. Mir wird das Herz schwer, mein Glaube ist schwach.

Zwei Grab­stel­len weiter: Mendels­sohns, Joseph Mendels­sohn und die Seinen. Die Daten auf der Grab­stele sind verwit­tert. Niemand fühlt eine öffent­li­che Verpflich­tung, sie zu verdeut­li­chen. 1770 bis 1848, der älteste Sohn des großen Moses Mendels­sohn; hier ruht er aus von seinen Bank­ge­schäf­ten, auf diesem Jüdi­schen Fried­hof, nicht auf einem christ­li­chen wie Abra­ham, sein Part­ner und jünge­rer Bruder: “Einen christ­li­chen Mendels­sohn kann es nicht geben”, hatte der an Felix, seinen hoch­be­rühm­ten Sohn, geschrie­ben, als er sich nicht beque­men wollte, sich Bartholdy zu nennen. Moses Mendels­sohn, der Seiden­händ­ler, der die deut­sche Spra­che erst geeig­net gemacht hat zum philo­so­phi­schen Diskurs, hatte Tole­ranz versucht, Tole­ranz in der Eigen­art, nicht in der Selbst­auf­gabe. Joseph, sein ältes­ter Sohn, meinte es dem Vater schul­dig zu sein, Jude zu blei­ben, nicht das zivi­li­sa­to­ri­sche Eintritts­bil­let Chris­ten­tum zu ziehen. Treue, Vereh­rung. Ich suche auf der Fried­hofs­erde einen klei­nen Kiesel­stein, den ich vom Grab des Sohnes zum Grab des Vaters tragen kann, in der Großen Hambur­ger Straße.
Der Fried­hof liegt fast oben auf der Erhe­bung der Schön­hau­ser Allee, die von hier über den Sene­fel­der­platz abwärts läuft, am südli­chen Plat­zende am Pfef­fer­berg vorbei, wo bayri­sches Bier gebraut wurde, noch bevor Hobrecht die Stra­ßen­flucht zeich­nete. Wie durch einen Trich­ter­mund läuft sie auf das Schön­hau­ser Tor zu. An der Stelle dieser Stra­ßen­ver­en­gung liegt der Neubau der sog. König­stadt-Terras­sen der Nürn­ber­ger Versi­che­rung, erfreu­lich modern, wenig post­mo­dern, mit offe­nen Armen der Fehr­bel­li­ner Straße gegen­über.
Hier hat man, die sachte Stra­ßen­schwin­gung im Rücken, einen schö­nen Blick auf die Hedwigs­kir­che und zur Rech­ten auf die trut­zige Herz-Jesu-Kirche, die nicht nur geöff­net ist, sondern auch auffor­dernd auf diese Tatsa­che hinweist. Drin­nen im Kirchen­dun­kel schei­nen die Reno­vie­rungs­ar­bei­ter bedacht­same Ruhe zu bewah­ren für den Beflis­se­nen, der den auslie­gen­den Erklä­rungs-Text lesen will von Irmgard Thierse, die — vermute ich — des SPD-Thierse Ehefrau ist. Dann wohnt sie nicht weit. Der Kirche gegen­über ist hoch oben ange­sprayt: Wohn­raum statt Schön­bohm. Reimt sich das?

Das Schön­hau­ser Tor, durch das ich jetzt den Bezirk verlasse und nach Mitte über­wechsle, ist eigent­lich nur ein Name, aber es ist dabei, tatsäch­lich ein Tor zu werden, gebil­det von dem Neubau an der östli­chen Ecke, der nicht weiß, ob er noch modern oder schon post­mo­dern sein will, und der in seiner gebo­ge­nen Fassade selbst eine Art Tor ausbil­det und von dem Neubau, der an der west­li­chen Ecke für die Firma Trigon entsteht. Hoffent­lich finden sie alle solvente Mieter.
Das Grab Moses Mendels­sohns liegt in der Großen Hambur­ger Straße neben der jüdi­schen Schule, die es in Berlin seit eini­ger Zeit wieder gibt. Über das Kinder­la­chen, das hier heraus­dringt, würde ich mich noch mehr freuen, wenn nicht zwei Poli­zis­ten vor dem Tor stehen müss­ten. Solche Angst müssen wir haben vor manchen von uns, dass sie Tole­ranz nicht ertra­gen könne.
Neben der Schul­tür eine Bron­ze­platte, die an Moses Mendels­sohn als den ersten Schul­grün­der erin­nert. Das Grab selbst liegt ein Stück­chen weiter, von Häusern fast umge­ben, aus einem bestimm­ten Haus an der Orani­en­bur­ger Straße, in dem die Staats­an­wäl­tin Clarissa Bilian wohnt, kann man herüber sehen.
Der Grab­stein, der schon eine Replik des ursprüng­li­chen ist, das Grab ist auch mehr­mals ein biss­chen hin und her gewan­dert, bildet nach oben neben Absät­zen auf beiden Seiten, eine sanfte Halb­kreis­wöl­bung, auf den Absät­zen und oben­auf liegen Kiesel, auf der hebräi­schen Seite der Grab­platte halten sie eine rote Rose und eine kleine exoti­sche Topf­pflanze.
Mein Kiesel­stein ist, glaube ich, der kleinste, ich lege ihn so hoch wie möglich auf die Grab­platte des Vaters, ob unter den vielen Kieseln noch ein ande­rer ist, der vom Grab des treuen Sohns kommt?
Joseph Mendels­sohn hatte in der Nähe Frank­furts, in Horch­heim, ein schö­nes Land­gut, sein berühm­ter Neffe Felix war dort oft zu Besuch beim jüdi­schen Onkel: “Ich liege unter Apfel­bäu­men und großen Eichen, fresse Erdbee­ren zum Kaffee, zu Mittag und zum Abend”, dort kompo­nierte er die Musik auf den 114. Psalm, die Schu­mann gefiel. “Vor dem Herren erhebe, die Erde”, heißt dieser Gesang in der Über­set­zung seines Groß­va­ters, “vor dem Gotte Jakobs, der Fels in Wasser wandelt, Kiesel­steine in Quel­len”. Oder sollen wir an Meyer­beer denken, seinen 92. Psalm, in Moses Mendels­sohns Text: “Sie müssen dich auf Händen tragen, dass deinen Fuß kein Stein verletze”?

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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