Bötzow, Arnswald, Lilo

Ich nenne sie Lilo. Sie hieß Lise­lotte. Ich blicke auf ein Bild der Chemie­stu­den­tin; darauf sieht sie jungen­haft, freund­lich aus; dass man einer solchen Frau (und über­haupt irgend jeman­dem) den Kopf abschlüge: ein schau­der­haf­ter, obzö­ner Gedanke. Aber die Geschichte dieses Spazier­gangs fängt nicht mit Lise­lotte Hermann an, sondern mit Bötzows. Oder mit Olym­pia. Das Film­thea­ter am Fried­richs­hain, mit dem die Bötzow­straße beginnt, hieß, als Otto Werner es 1925 fertig gebaut hatte, Olym­pia-Film­thea­ter: 1.200 Plätze; das muss man sich mal vorstel­len. Und das war nicht das einzige Riesen-Film-Thea­ter im Prenz­l­Berg; der Ufa-Palast in der Schön­hau­ser Allee war noch größer. Aber die Kino-Zeit ist vorbei. Auch die Zeit der großen Braue­rei-Gärten ist vorbei. Seit den 1880er Jahren brau­ten Bötzows hier Bier, verkauf­ten es in ihren Bier­gär­ten und Spei­se­sä­len. Ihren riesi­gen Grund­be­sitz hatten sie noch als Wiesen erwor­ben, die sanft hinauf­stie­gen zu der hüge­lig abfal­len­den Hoch­flä­che; das 19. Jahr­hun­dert hat in rasen­dem Grün­der­zeit­tempo Miets­häu­ser über Miets­häu­ser auf dieser länd­li­chen Vergan­gen­heit errich­tet, die jetzt selbst Vergan­gen­heit bezeu­gen.

Eine schöne Straße; ich möchte sie bedeu­tend nennen. Sie hat Vergan­gen­heit, offen­sicht­lich hat sie auch Zukunft, viel­leicht bleibt sie einer von diesen Sozio­lo­gie-Boule­vards, die jenes soziale Durch­ein­an­der herstel­len, von dem James Ludolf Hobrecht, der große Stadt­pla­ner, roman­tisch schwärmte, als er alt und ein Baumeis­ter von Abwäs­ser­ka­nä­len gewor­den war. Die Stra­ßen, die rechts und links in diesem “Bötzow­vier­tel” zu Ende des [vor]vorigen und zum Beginn dieses [des vori­gen] Jahr­hun­derts entstan­den, erhiel­ten die Namen ost- und west­preu­ßi­scher Städte: “Ostpreu­ßen­vier­tel” sagte man; die Straße, die es östlich begrenzt, erhielt den Namen eines Hoch­meis­ters des Deut­schen Ritter­or­dens, eines zwei­fel­haf­ten Vereins, der das Preu­ßen­deut­sche ins Litaui­sche mit Feuer und Schwert und dem funda­men­ta­lis­ti­schen Kreuz verbrei­tete. Kniprode hieß dieser Mann des 14. Jahr­hun­derts. Nach ihm heißt die Artur-Becker-Straße nun wieder, wie auch schon von 1901 bis 1974. Maria Pilar del Mendi­buru, eine Frau, die dabei war, versteht es — wie im Bezirks­jour­nal zu lesen ist — nicht, warum Hans Beim­ler und Artur Becker, die Spani­en­kämp­fer auf der recht­mä­ßi­gen Seite, ihre Stra­ßen herge­ben muss­ten, während die Spani­sche Allee im feinen Zehlen­dorf, mit der der deut­sche Staats-Faschis­mus dem spani­schen huldigte, blei­ben darf.
Ich bin auf Frau Mendi­bu­rus Seite. Aber immer­hin will ich den Stadt­re­gen­ten zu Gute halten, dass sie die Anti­fa­schis­ten, gegen deren Namen die preu­ßi­schen Stra­ßen 1974 ihre Namen tauschen muss­ten, auf den Schil­dern belas­sen und diese jungen Leute nicht aus der öffent­li­chen Erin­ne­rung ausge­trie­ben haben, nur weil die meis­ten Deut­schen nicht auf der Seite der Opfer, sondern auf der Seite der Täter gestan­den haben.

Als ich gestern Mittag zu diesem Spazier­gang aufbrach, betrach­tete ich das Bild von Lise­lotte Hermann, durch deren Straße ich jetzt gehe. Ich weiß nicht, ob sie selbst jemals durch diese Arbei­ter­straße gegan­gen ist. Als die Studen­tin von Geheim­po­li­zis­ten verhaf­tet wurde lebte sie in Stutt­gart und als ihr die deut­sche Justiz den Kopf abschlug, war es in Plöt­zen­see.
Otto, Schehr, Schön­haar, Kapelle, Bena­rio Pres­tes, Nieder­kirch­ner, Saef­kow sind als Namen hier­her gekom­men, als Sche­men aus unge­nauer Erin­ne­run­gen, wenige werden sie hier genau kennen, es werden immer weni­ger werden.

Die deut­sche Geschichte hat viele Opfer, die wenigs­ten benen­nen Stra­ßen. Der Vereh­rungs­sta­tus, den der Staat bestimmt, ändert sich auch. Dem heuti­gen Staat ist der zwei­fel­hafte Kniprode lieber als Artur Becker, und Otto Braun, der in der Schweiz über­lebte, lieber als Hans Beim­ler, der in Spanien starb. Mit diesen vor Resi­gna­tion quälen­den Gedan­ken bin ich auf dem schö­nen, hoch­ber­li­ni­schen Arns­wal­der Platz ange­kom­men. Vom 1937 bis 1947 hieß er Hell­mann­platz. Fritz Hell­mann, ein Schlos­ser wie John Schehr, war auch noch ein junger Mann, als er im April 1932 umkam. Viele haben auch in ihm ein Opfer gese­hen, ein Jahr­zehnt lang hat ihn der deut­sche Staat für platz­na­mens­wür­dig ange­se­hen. Später hat ein ande­rer deut­scher Staat den ganzen Arns­wal­der Platz über­haupt nicht mehr für namens­wert gehal­ten: keine posta­li­sche Bedeu­tung, hieß es. Ich sitze lange auf den Bänken an diesem viel­ge­stal­ti­gen Platz, der im Norden lebhaft, im Süden ruhig ist und auf dem mäch­tig und merk­wür­dig der wasser­lose Brun­nen steht, den das Volk “Stier­brun­nen” nennt. Ich über­lege mir, warum die Stadt in den enden­den 20er Jahren bei dem Bismarck­bild­hauer Hugo Lede­rer ausge­rech­net einen “Frucht­bar­keits­brun­nen” bestellte, für diese Arbei­ter­ge­gend, für die der sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Justiz­mi­nis­ter Gustav Radbruch in einer popu­lä­ren Schrift darstel­len ließ, wie man benutzte Präser­va­tive wieder­ver­wen­dungs­fä­hig machen kann. Nun stehen in rotem Porphyr hier die kräf­ti­gen Stiere mit undeut­li­chen, aber großen roten Hoden­sä­cken. Eine der Spray­in­schrif­ten zu Füßen der Stiere, Schä­fer, Schnit­te­rin­nen und Fischer lautet jenseits von aller Recht­schreib­re­form: “Fuck the Systhem”. Was meint der Sprayer mit “System”? Als poli­ti­scher Begriff ist das doch ein ganz über­al­ter­tes Wort. Sind die jungen Kriti­ker des Staa­tes etwa auch nicht aktu­el­ler als seine alten Verwal­ter? Lang­sam gehe ich meinen Weg weiter, Otto, Schehr, Schön­haar, Saef­kow, hinten auf der ande­ren Seite noch Lilli Henoch, dann hinauf und ab vom S‑Bahnhof Greifs­wal­der Straße. Ich will später diese Gegend noch einmal beschrei­ben, ganz abge­se­hen von den Namen. So wie man sieht, nicht so, wie man über sie denken soll.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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