Von der Grunow- zur Wollankstraße II

Eigent­lich weiß ich über Wilhelm Kuhr fast nichts; aber ich mache mir Gedan­ken über ihn, während ich durch seine Straße auf den Triumph­bo­gen zugehe, hinter dem der Bürger­park beginnt.
Wilhelm Kuhr war Jurist, er machte eine beschei­dene Bürger­meis­ter­kar­riere von Burg bei Magde­burg nach Pankow; er kaufte für die Stadt das Gelände des Bürger­parks, sonst wären Miets­ka­ser­nen hinge­kom­men, liest man; Bevöl­ke­rung von Pankow 1870 etwa 3.000 Menschen, 1905 fast 30.000, 1919 rund 58.000: wahr­schein­lich wären es wirk­lich Wohn­ka­ser­nen gewor­den, aber wo wohn­ten die Leute nun?
Wiesen statt Wohnun­gen; ich bin mir nicht sicher, ob Wilhelm Kuhr eine rich­tige Entschei­dung getrof­fen hat. 1914 zog er in den Krieg. Entwe­der ist er in Ungnade gefal­len, oder er hat ganz falsch gedacht. Mit fast 50 ist man zu alt fürs Leut­nant­sein. Bei einer polni­schen Stadt ist er für seinen Kaiser gefal­len; der Kaiser ist nicht gefal­len. Nach­dem er Hundert­tau­sende umge­bracht hatte, hat er sich priva­ti­siert, um als Guts­be­sit­zer zu Ende zu leben.
Der Bürger­park war von Anfang an etwas Anachro­nis­ti­sches. Welche Gedan­ken lagen dem Triumph­bo­gen zu Grunde, mit dem der Park anfängt, als sei’s Italien?

Der Triumph­bo­gen sagt: Der Bürger (oder doch der Bürger­meis­ter) will Kaiser sein. Oder wenigs­tens Graf. Einige Schrif­ten behaup­ten, Hermann Killisch von Horn sei Graf gewe­sen. Die Grab­stelle der Killischs ist noch da, auf dem Schmuck­fried­hof, mit dem der Park beginnt. Andere sagen, der alte Killisch von Horn war ein Parvenü, er hat sich den Adel gekauft, ein windi­ger Geschäfts­mann, ein Schie­ber.
Er war in Brom­berg gebo­ren, 1821, er war also 34 Jahre alt, als er die vierte Tages­zei­tung Berlins grün­dete. Sie hieß “Berli­ner Börsen-Zeitung”, sehr aufla­gen­stark war sie nie, aber zeit­weise sehr einfluss­reich; die Grün­dung, heißt es, geht auf Bismarck zurück; bevor er Staats­mann wurde, war Bismarck preu­ßi­scher Gesand­ter beim Deut­schen Bund, in Frank­furt am Main, dort lernte er die Frank­fur­ter Börse kennen; aus dem Börsen­we­sen würde auch in Berlin sehr viel mehr werden, als es war, 1806 (im Jahr der preu­ßi­schen Nieder­lage bei Jena) notierte der Berli­ner Kurs­zet­tel 21 öffent­li­che Fonds, 1840 zusätz­lich das ganz Neue: Eisen­bahn­ak­tien, in den 60-er Jahren Bank­an­teile und Hypo­the­ken, 1870 360 Effek­ten, 1895 fast 1.300, und so ging es weiter.
Bismarck hatte gese­hen, worauf die Sache hinaus­lief, und er hatte auch gese­hen, dass sie Börsia­ner ein publi­zis­ti­sches Organ brauch­ten; Hermann Killisch schuf es, am 1. Juli 1855 erschien die “Berli­ner Börsen-Zeitung” zum ersten Mal; bis in den Zwei­ten Welt­krieg bestand sie, fast bis zuletzt im Besitz der Killischs, Ende ’39 starb Arnold Killisch von Horn, der die Zeitung bis wenige Monate vor seinem Tod gelei­tet hatte, da war sie an die Nazis gefal­len, nicht von selbst.
Die Killischs waren also publi­zis­ti­sche Diener der Hoch­fi­nanz, auch viele hohe Offi­ziere bezo­gen von ihnen ihre poli­ti­sche Meinung oder ließen sich die bestä­ti­gen, die sie ohne­hin hatten; der Gene­ral von Stül­pna­gel war der letzte Geschäfts­part­ner der Killischs; in den begin­nen­den 20-er Jahren war Walt­her Funk ihr Wirt­schafts­re­dak­teur, den Adolf Hitler zu seinem Wirt­schafts­mi­nis­ter und zum Reichs­bank­prä­si­den­ten machte; er wusste, in wessen Inter­esse.
Der letzte Zeitungs-Killisch hatte noch die Idee, aus der “Börsen-Zeitung” für den Propa­ganda-Minis­ter Dr. Goeb­bels eine neuar­tige Wochen­zei­tung zu machen, aber der Nazi-Presse-Zar Amann ging zu Hitler, und Hitler entschied sich gegen Goeb­bels, bis der dann “Das Reich” bekam. “Das Reich” sah so ähnlich aus wie Killisch sich die verwan­delte Börsen-Zeitung vorge­stellt hatte und wie heute “Die Zeit” aussieht. Aber nein, das darf man nicht sagen, das ist zu miss­ver­ständ­lich.

Während man an einem kalten Febru­ar­tag durch den Bürger­park geht, ganz allein, nur die Berg­zie­gen sind da, die nicht wissen wieso, muss man aufpas­sen, dass einem im Kopf nicht alles durch­ein­an­der geht. ich gehe auf Johan­nes R. Becher zu, der von Cremer geformt mit blau bespray­ter Geni­tal­zone miss­mu­tig über den Bürger­ra­sen geht, als ob er gerade dächte: Aufer­stan­den aus Ruinen, aber mit Frage­zei­chen.
Der andere Groß­bür­ger­sohn, der in diesem Bürger­park ein biss­chen weiter hinten gefei­ert wird, gehört hier­her auch nur so, wie er über­all hinge­hört, weil er einer der größ­ten deut­schen Schrift­stel­ler einer Zeit war, die vergan­gen ist. Unter­ta­nen gibt es immer noch, aber die sind nicht mit Hein­rich Mann zu heilen. Die belle­tris­ti­schen Intel­lek­tu­el­len passen nicht in die Nähe der Schulze- und der Wollank­straße, die nach den Grund­be­sit­zern genannt sind, die hier kräf­tig Mäuse mach­ten. Sie halten Stand, jedem deut­schen System sind sie recht. Sie sind die wahren deut­schen Bürger.

Ich verlasse den Park schnell. Gegen­über in der Wilhelm-Kuhr-Straße 3 hat Rein­hold Burger die Ther­mos­kanne erfun­den und die ersten Rönt­gen­röh­ren gebaut, durch die Wollank­straße fuhr die erste Stra­ßen­bahn Berlins, Deutsch­lands, der Welt? Max Sklad­anow­ski, ein ehema­li­ger Schau­stel­ler, hat hier fast den Film erfun­den und in Nr. 134, auf dem Hof, konnte man 1936 zur Nazi-Olym­piade zum ersten Mal Fern­se­hen sehen. Da muss man die Kinder hinfüh­ren, um ihnen zu sagen: Fern­se­hen hat es tatsäch­lich nicht immer gege­ben.
Südlich und östlich vom Bürger­park ist Pankow hoch­ak­tu­ell, das Gestern zum Heute, wie: das Buch zum Film; in Pankow kann man erle­ben, dass die Gegen­wart Vergan­gen­heit hat; aber viel­leicht brau­chen wir die Vergan­gen­heit nicht mehr; es geht auch ohne, manch­mal geht’s besser; viel­leicht ist Verdrän­gung doch nütz­li­cher als Dr. Freud dachte; wir lassen’s drauf ankom­men.

Der Asphalt­weg, der hinter den Hof-Häusern der Schul­ze­straße entlang führt, erin­nert an etwas, was wir gar nicht mehr wissen wollen. Auch die Mauer war ein deut­sches Ding, wie die Ther­mos­kanne, die Nipkow-Scheibe fürs TV, die Börsen-Zeitung für die Geschäfte und die Vorur­teile, wie die Miets­ka­ser­nen für den Grund­pro­fit, Johan­nes R. Becher fürs Natio­nale, Hein­rich Mann fürs Inter­na­tio­nale und Wilhelm Kuhr, wer weiß wofür. Von Toten kann man in Wirk­lich­keit nur eins sagen: Sie sind tot. Alles andere, was man über sie sagt, sagt man über die Leben­den.
Durch das Frie­sen­blau der Türen steige ich auf den Bahn­steig Wollank­straße hinauf, stehe nun erho­ben, auf der einen Seite Wedding, auf der ande­ren Pankow, kein Unter­schied des Charak­ters. Die von der Mauer frei­ge­leg­ten Hinter­höfe sehen aus wie ausge­brei­tete Arme. Die S‑Bahn, mit der ich nun von Pankow fort­fahre, ist auf wört­li­che Weise Stadt-Bahn: Schnel­ler kann man nicht erse­hen, was Berlin ist, als aus diesem Zug, bis er — schon in Mitte — gleich hinter dem Grab Theo­dor Fonta­nes in der unte­ren Welt verschwin­det.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

Foto: 44penguins (Angela M. Arnold), CC BY-SA 3.0

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