Schöne Aussicht. Schöne Aussichten.

Beschrei­ben, was man sieht, nicht, was man weiß. Die Örtlich­kei­ten haben keine Erin­ne­run­gen. Jeden­falls die meis­ten nicht. Sondern nur die, deren Leben ange­hal­ten wird und die aus der Gegen­wart entlas­sen sind.
Aller­dings ließen sich aus der Belle­vue­straße, die zwischen Pots­da­mer und Kemper­platz verläuft und früher als Straße direkt auf das könig­li­che Belle­vue hinführte, wie jetzt nur noch als Tier­gar­ten-Allee, Geschich­ten erzäh­len. Manche davon sind exem­pla­risch; zum Beispiel die Erzäh­lung über den Weg von Hugo Stin­nes, dem zwei­fel­haf­ten, am 23. Juni 1922, abends, nachts, gegen zehn Uhr, in die ameri­ka­ni­sche Botschaft, wo Walt­her Rathenau auf ihn wartete, zu einem wirt­schafts­po­li­ti­schen Streit­ge­spräch, das sie zurück­keh­rend im Hotel Espla­nade am Pots­da­mer Platz fort­setz­ten bis vier Uhr morgens. Da hatte Rathenau nur noch knappe sieben Stun­den zu leben.
Nun ist er schon lange tot. Auch das Haus ist weg, in dem hinten in der Victo­ria­straße, unter der Staats­bi­blio­thek viel­leicht, seine Mutter gewohnt hatte, der er zunächst gar nicht hatte sagen wollen, dass er Außen­mi­nis­ter gewor­den war. Sie wusste, dass auf einen reichen jüdi­schen deut­schen Außen­mi­nis­ter in Deutsch­land der Tod stand. Die ganze AEG ist weg, die ganze Belle­vueh­af­tig­keit. Was davon erin­ne­rungs­wür­dig ist, gehört in einen ande­ren Zusam­men­hang als einen örtli­chen.

Ich komme mit dem 129er, um vom Anhal­ter Bahn­hof auf die Belle­vue­straße zuzu­ge­hen, also von Kreuz­berg; in der Schnelle hat man hier drei Bezirke betre­ten, die viel­leicht irgend­wann ein einzi­ger sein werden.
Das ältere Berli­ner Ehepaar, das vor mir auf dem Ober­deck des Busses sitzt, ist vom An- und Ausblick begeis­tert:
“Ham se nicht hier ooch son Zeichen rauf­ge­setzt?”
“Wo?”
“Auf die Filhar­mo­nie” (meint aber die Stabi).
“Wat fürn Zeichen?”
“Na, wie auf Merce­des” (meint aber debis).
“Nee, is bloß’n Kran!”
“Mehr als bloß einer! Sinn allet Kräne hier!”
Als ich am Anhal­ter Bahn­hof ausge­stie­gen und die Stre­se­mann­straße nord­wärts gegan­gen bin, zähle ich 29 Kräne, links und rechts und gera­dezu. Am Anhal­ter Bahn­hof über­fal­len mich Kind­heits­er­in­ne­run­gen. Ich lag in einer Zink­ba­de­wanne, auf einer dich­ten roten Bett­de­cke, ganz oben im Gang des Zuges, der keine Ausfahrt erhielt, als die Bomben fielen. Nichts für ungut, denke ich heute manch­mal, was haben die Väter gedacht, die diese Bomben auf Kinder gewor­fen haben? Auch wenn es Kinder im Reich Adolf Hitlers waren, so waren es doch Kinder.
Die Welt der Erwach­se­nen taugt nichts, spre­che ich zu mir, während ich am Beginn der Belle­vue­straße nicht nur längst ein Erwach­se­ner, sondern auch einer bin, der das Leben schon ab- und auszu­sto­ßen beginnt.
Hier entsteht gewal­tig Neues, nach­dem das Alte zusam­men­ge­schmis­sen war. Aber es gibt immer noch Solda­ten, immer noch Männer, die erzo­gen werden, um befehls­mä­ßig auch Kinder umzu­brin­gen, Orden dafür bekom­men, Ehren­zei­chen. Die Moral funk­tio­niert nicht. Auch in der Welt nicht, für die ich mitver­ant­wort­lich bin.
Wohin bietet die Belle­vue­straße ihre schöne Aussicht? Wir haben 1944, 1945 gute Aussich­ten gehabt, als wir dach­ten, wir hätten gar keine. Der Bahn­hof, der unter den Bomben lag, die schö­nen Villen in der Victo­ria­straße, die Victo­ria­straße selbst; weg, in Asche gesun­ken; die Ruinen sind abge­ris­sen, wir sind noch da. Haben nicht Solda­ten sein müssen, weiße Jahr­gänge, haben nirgendwo Bomben gewor­fen, nirgendwo Kinder umge­bracht. Außer dadurch, dass wir gut gelebt haben vom Hunger der Kinder in Afrika (sagt Manfred Jagusch, der für mich hier foto­gra­fiert und mit dem ich vor fast 50 Jahren auf dersel­bern Schul­bank geses­sen habe). Beschrei­ben, was man sieht, nicht das, was man weiß, den Erin­ne­run­gen das Eindrin­gen in die Gegen­wart verwei­sen, so leicht ist das nicht. Hier geht es aber gut.

Als ich am Beginn der Belle­vue­straße stehe, einer donnern­den Auto­straße, im Staub und eisi­gen Wind, sehe ich — wie gesagt — 29 Kräne, gelbe, blaue, einige rote. Die Straße ist eigent­lich zur Zeit gar nicht voll­stän­dig. Zum Leip­zi­ger Platz, der als Platz derzeit nur schwer zu erken­nen ist, spannt sie sich über eine breite Beton­brü­cke, die für die Fußgän­ger ein zittern­der Holz­steg ist, von dem man hinun­ter einen atem­be­rau­bend stei­len Blick in den werde­nen Bahn­tun­nel hat. Die Arbei­ter unter ihren bunten Helmen ganz klein, direkt unterm Betrach­ter; die Senk­rech­tig­keit des Blickes erlaubt es kaum, sich selbst und die unten durch den Maschi­nen­lärm Rufen­den als Teile der selben Wirk­lich­keit zu begrei­fen.
Hier besteht das Gelände nur aus Tech­nik, das Grün des Adlon hinten, das Gold­gelb der Phil­har­mo­nie vorne sind Illus­tra­tion einer vibrie­ren­den Baustelle, in der das breite Plakat für die Come­dian Harmo­nists die ganze Vergeb­lich­keit von Imita­ti­ons­ver­su­chen vermit­telt. Was war, kommt nicht wieder. Es ist über­haupt keine Erin­ne­rung an das Gewe­sene mehr möglich. Selbst fertige Bauten, sogar Mies van der Rohes Neue Natio­nal­ga­le­rie und die geschwun­ge­nen Formen von Scharouns Phil­har­mo­nie und Staats­bi­blio­thek wirken wie Baustel­len­zu­ta­ten. Nur Stülers Matthä­us­kir­che, letz­tes Zeug­nis des verschwun­de­nen Promi­nen­ten-Vier­tels aus der Mitte des [vor]vorigen Jahr­hun­derts, unter­schei­det sich. Was die Stif­tung Preu­ßi­scher Kultur­be­sitz der Belle­vue­straße gegen­über gebaut hat, vertritt den Baustel­len­stil, wirkt unfer­tig, aber aufwärts­wei­send. Nach­dem ich das die Belle­vue­straße been­dende Biegungs‑S durch­eilt habe und aufbli­cke, wirkt der grüne debis-Würfel auf der Abzugs­esse, als ob er auch für die Staats­bi­blio­thek gelte.
Die Brüder Grimm und ihre inter­na­tio­nale Ausstrah­lung heißt eine Ausstel­lung, die die Stabi ankün­digt. Eine Straße weiter hinten, Link­straße, sozu­sa­gen unter debis haben sie gewohnt, weil sie Ruhe haben woll­ten vor der lärmen­den Stadt. Namen erhal­ten Orte nicht.
Die Belle­vue­straße ist eine der aufre­gends­ten Stra­ßen Berlins. Viel Stoff für einen, der sagen will: Ogot­to­gott. Noch mehr für einen der sagen will: Vergan­gen­heit ade, die Zukunft Berlins hat begon­nen.
Durch die enge Stra­ßen­schlucht weht ein kalter Wind. Jetzt, im Dezem­ber. Aber der Früh­ling kommt und der Sommer.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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