Ein Gespenst geht um

Mein Kollege, der in den 80er Jahren aus Ägyp­ten zum Studie­ren nach Berlin gekom­men ist und nun hier Taxi fährt, erlebt derzeit aufre­gende Tage. Jeden Abend tele­fo­niert er mit seinen Verwand­ten, die sich an den Demons­tra­tio­nen in Kairo betei­li­gen. Ruhig schla­fen kann er nicht mehr, zu aufre­gend ist die Entwick­lung in seiner Heimat. Das Land steht am Anfang einer Demo­kra­ti­sie­rung, so wie wohl auch manch ande­rer arabi­scher Staat drum herum. Niemand weiß, in welchem Land es die nächs­ten Proteste, Aufstände und Umstürze gibt. Und wie die Herr­scher reagie­ren. Und die Mili­tärs.

Und über­haupt: Was heißt schon Demo­kra­ti­sie­rung? Der Kollege ist einst dort weg gegan­gen, weil er nicht mehr in einem vom Islam beherrsch­ten Staat leben wollte. Doch die jetzige Entwick­lung könnte alles noch viel schlim­mer machen. In den meis­ten arabi­schen Ländern haben sich Poten­ta­ten fest­ge­setzt, die den Islam als Unter­drü­ckungs­in­stru­ment gegen das eigene Volk benut­zen. Ob sie selber wirk­lich so fromm sind, ist eine ganz andere Frage.
Demo­kra­ti­sie­rung heißt, dass künf­tig verschie­dene Parteien zuge­las­sen werden, aber niemand weiß, welche am Ende die stärkste sein wird. Denn natür­lich besteht die Gefahr, dass es Extre­mis­ten sind, die letzt­end­lich gewin­nen und dann eine neue Dikta­tur instal­lie­ren. Im Iran ist das gut zu beob­ach­ten, auch er ist formal eine Demo­kra­tie. Und er unter­stützt jetzt bei den Aufstän­den massiv die Kräfte, die seinen Einfluss sichern.

Die Entwick­lung in Ägyp­ten und vorher schon in Tune­sien erin­nern an die späte DDR. Auch dort gab es 1989 ein Regime, das sich gar nicht vorstel­len konnte, vom einfa­chen Volk auf der Straße einfach wegge­jagt zu werden. Und plötz­lich ging es doch ganz schnell.
So wie es damals im ganzen Ostblock rumorte und eine Regie­rung nach der ande­ren die Moskwa runter­ging, ist es dies­mal der Jordan. Auf der Liste der poten­zi­ell betrof­fe­nen Staa­ten stehen als nächs­tes schon der Jemen, auch Saudi-Arabien, Jorda­nien, viel­leicht Libyen und selbst in Gaza hat die Hamas gestern eine erste Demons­tra­tion ausein­an­der geprü­gelt. Ein Gespenst geht um in Arabien. Und nicht nur dort: Die Stra­ßen­kämpfe in Tehe­ran sind erst wenige Monate her, im weiß­rus­si­schen Minsk erst ein paar Wochen.

Wie vor 20 Jahren ist nun wieder eine Zeit der Verän­de­run­gen. Und so wie 1989/90 muss es sich auch heute nicht über­all zum Besse­ren wandeln. Damals ging es um den Sturz sozia­lis­ti­scher Dikta­tu­ren, es folg­ten bürger­li­che Demo­kra­tien. Doch die haben sich seit­dem nicht immer bewährt. Die west­li­che Demo­kra­tie steht heute nicht nur für Presse‑, Rede- oder Versamm­lungs­frei­heit, sondern auch für Guan­ta­namo, Folter in Abu-Ghuraib und die Welt­wirt­schafts­krise, ausge­löst durch das System gieri­ger Finanz­struk­tu­ren. Als Vorbild taugt das nicht unbe­dingt.

Also stellt sich wieder einmal die System­frage, nicht theo­re­tisch, sondern im ganz realen Leben. Und auch wenn es derzeit nur Dikta­tu­ren und Schein­de­mo­kra­tien betrifft, so ist nicht gesagt, dass es dabei bleibt. Revo­lu­tio­nen sind anste­ckend und manch­mal trifft es auch die, die es über­haupt nicht erwar­ten.

Email4mobile, CC BY-SA 3.0

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3 Kommentare

  1. Die Aussa­gen “unse­rer” Poli­ti­ker sind eh vor’n Hintern. Plötz­lich fordern sie Demo­kra­tie in Ägyp­ten.
    Warum eigent­lich nicht in Saudi-Arabien?

  2. Ich denke man sollte die momen­tane Situa­tion nicht mit der dama­li­gen DDR verglei­chen. Es ist momen­tan noch brisan­ter und viel­leicht nur der Anfang von “noch Mehr”. Auch gab es damals die BRD und damit schon ein demo­kra­ti­sches Gerüst zum Über­neh­men. Das ist in Ägyp­ten so ja nicht vorhan­den, und daher, so meine ich, ist es dort wich­tig nicht nur einen Macht­wech­sel zu voll­zie­hen, sondern auch die Struk­tu­ren zu ändern. Ansons­ten wird es wohl so ähnlich werden wie z.B. in Afga­ni­stan, wo es immer noch die alten (Stammes-)Strukturen gibt und das Wort Demo­kra­tie wohl mehr ein Wunsch ist und das wohl auch noch auf unge­wisse Zeit so blei­ben wird.

    Leider geht es offen­sicht­lich gerade in Ägyp­ten mehr um Macht und Einfluss als um Hilfe zur Selbst­hilfe, zumin­dest erwe­cken viele Aussa­gen und Berichte diesen Eindruck in mir. Man schaue sich nur mal das Geeier von Regie­rungs­chefs in Frank­reich oder der USA an.

    Und man sollte wohl auch diesen “schlei­chen­den” Groß­macht­wech­sel zwischen den USA und China sehr gut im Auge behan­deln. Hier scheint es das die eine Groß­macht den Zenit ihrer Macht bereits über­schrit­ten hat, das aber nicht wirk­lich wahr haben will, und die andere schon weit mehr als nur in den Start­lö­chern steht. Mir stellt sich da die Frage wie eine dikta­to­ri­sche Macht dann mit den Aufga­ben und Pflich­ten einer Groß­macht umzu­ge­hen weiß, und ehrlich gesagt habe ich davor weit mehr Angst, als vor einem Poli­tik­wech­sel in Ägyp­ten.

  3. » Warum eigent­lich nicht in Saudi-Arabien?

    Weil die Saudis die Kohle haben um die Projekte unse­rer Firmen zu kaufen, die “unsere” Poli­ti­ker dann vermit­teln dürfen.
    Und wer murkst schon die Kuh ab von der er die Milch bekommt? ;-)

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