Drei-Gerichte-Weg

Zeit­lich rich­tig — wenn das Wort Zeit hier rich­tig wäre — wäre es, denke ich, diesen Stadt­gang in der Litten­straße zu begin­nen. Also fuhr ich mit der U2 bis Klos­ter­straße, umwan­derte das Gericht durch Litten‑, Voltaire‑, Dirck­sen- und Grun­er­straße. Ging hinüber zum reno­vier­ten S‑Bahnhof Alex­an­der­platz, von dort mit der S3, S5, S7, S75, S9 bis Lehr­ter Stadt­bahn­hof, die Inva­li­den­straße abwärts bis Alt-Moabit, rund um das Krimi­nal­ge­richt und das Unter­su­chungs-Gefäng­nis — mitten im Bezirk liegt ein Gefäng­nis! jeder sieht es — und schließ­lich vom U‑Bahnhof Turm­straße bis zum Amts­ge­richt Wedding.
Im Neube­zirk Mitte-Tier­gar­ten-Wedding liegen drei Gerichte. Das Gericht in der Litten­straße ist knapp das älteste von den drei Trutz­bur­gen eines elen­den Sieges. Auf diesem Stadt­gang wäre eine Geschichte zu lernen, die in Deutsch­land aber niemand lernen wollte im letz­ten Jahr­hun­dert. Auch jetzt wohl niemand. Post-Moderne, Post-Histo­rie.

“Kreis­rich­ter” und “Kammer­ge­richts­rat”: für Bismarck, den eiser­nen Kanz­ler, waren das Schmäh­wör­ter. In der Mitte, im zwei­ten Drit­tel des 19. Jahr­hun­derts, hatten Rich­ter zu den Anfüh­rern des deut­schen Frei­heits- und Demo­kra­tie­stre­bens gehört, in über­re­prä­sen­ta­ti­ver Zahl waren die Rich­ter links … ach, die poli­ti­schen Himmels­rich­tun­gen: Waldeck zum Beispiel, den der König fürch­tete, zum Ersten Minis­ter machen zu müssen, wenn er nicht den stram­men Rechts­jun­ker Bismarck gehabt hätte. Leo Bene­dikt Waldeck, Ober­tri­bu­nals­rat, die Hoff­nung der Demo­kra­ten: man stelle sich etwa — aber da gibt es eben kaum eine Vergleich­bar­keit — heute vor: ein Bundes­rich­ter als Anfüh­rer der Hoff­nung auf Verän­de­rung, aber solche Hoff­nun­gen haben wir viel­leicht gar nicht oder brau­chen wir nicht; ein ande­res Beispiel also: Hein­rich Toepitz, hier in der Litten­straße Präsi­dent des Obers­ten Gerichts der DDR, 26 Jahre lang, Toepitz als Anfüh­rer der Bürger­rechts-Bewe­gung, das war ihm nicht zuzu­trauen, aber lassen Sie uns das mal vorstel­len, nein, das können wir uns nicht mal vorstel­len. Die DDR ist vorbei. Wir wissen gar nicht mehr, was sie war. Geschichte: das ist eine Zusam­men­stel­lung von Märchen. Waldeck, Twes­ten, Simon, Temme, Kirch­mann: die großen Rich­ter der demo­kra­ti­schen Hoff­nung Mitte des 19. Jahr­hun­derts — ganz verges­sen, jenseits der Vorstell­bar­keit. Als Bismarck das “Reich” geschaf­fen hatte, gab er ihm auch eine Reichs­jus­tiz. Die Reichs­jus­tiz-Gesetze gelten heute noch, gelten heute wieder (muss man hier in der Litten­straße sagen): Das war eine könig­li­che Justiz, am Gericht in der Litten­straße über Portal 13 steht es stei­nern ange­schrie­ben durch alle deut­schen Staats­sys­teme seit­dem: könig­lich, also nicht volks­tüm­lich, auf Seiten der Herr­schen­den, eine Justiz von oben, eine Justiz des Unver­ständ­nis­ses zumin­dest; wer bezah­len kann, kommt mit ihr ganz gut klar. Diese andau­ernde Reichs­jus­tiz war also ein Sieg der Klasse … ach, sagen wir nicht: Klasse, das Wort trifft auch dane­ben, besser: der Trei­bels, der Kommer­zi­en­räte, der Handels-Gesell­schaf­ten; das muss nicht beklagt werden; sie schaf­fen die Arbeits­plätze, wenn sie sie schaf­fen; sagen wir: ein Sieg des Wohl­stan­des über … über … die Gerech­tig­keit, wollte ich schrei­ben, aber das trifft es auch nicht, denn Gerech­tig­keit, wer kann Inter­esse an Gerech­tig­keit haben, da wir doch Wohl­wol­len brau­chen?

Diese drei Gerichts­ge­bäude in diesem einen Bezirk: erst- und einma­lige Denk­mä­ler sind das jeden­falls für diesen Sieg der Reichs­jus­tiz über die Volks­jus­tiz, für diese geschicht­li­che Umkehr des deut­schen Rechts­we­sens von der linken auf die rechte Seite. Sie stam­men von einem einzi­gen Archi­tek­ten­team: Paul Thoe­mer, Otto Schmalz, vor allem: Rudolf Mönnich, Könner erster Klasse, Baumeis­ter für eine schlechte Sache, aber sehr gute Baumeis­ter: auch ein deut­scher Muster­typ seit­dem: hand­werk­lich gut, egal wofür, was gehen uns die Inhalte an, die Form ist der Inhalt.
Gericht Litten‑, damals Neue Fried­rich­straße, gebaut 1896 bis 1904, Krimi­nal­ge­richt gebaut 1902 bis 1906. Das Gericht in der Litten­straße war damals nach dem Schloss das zweit­größte Bauwerk in ganz Berlin. Der tüch­tige Staats­se­kre­tär Kähne von der Senats­kanz­lei will in seinem schö­nen Buch über die Berli­ner Gerichte daraus eine posi­tive Folge­rung für den Charak­ter der Justiz ziehen. Aber da war der Wunsch der Vater des Gedan­kens dieses ehema­li­gen Ober­staats­an­wal­tes. An dieser Reichs­jus­tiz war nichts gut und auch nichts unab­hän­gig. Diesem Kähne­schen Irrtum hing ich früher, als ich selbst Rich­ter war, auch an; einer der Söhne des muti­gen Litten, den die Justiz ums Leben gebracht hat, sagte mir damals: Auf die deut­sche Justiz kann man keine Hoff­nun­gen setzen, keine, niemals. Ich wollte es nicht glau­ben. Längst glaube ich es. Später — wenn er das Regie­ren hinter sich hat — glaubt es auch Staats­se­kre­tär Kähne.
Der Spazier­gang um die drei Gerichte ist eindrucks­voll. Nicht nur für den, der hier — wie ich — einen Teil seiner Jugend gelas­sen hat, die nicht wieder­kommt. Was für Empfin­dun­gen gehen denn heute von diesen abblät­tern­den, andau­ern­den fast 100-jähri­gen Pracht­bau­ten der Äußer­lich­keit aus? Eine meiner Studen­tin­nen, die jetzt drin­nen arbei­tet als Justiz­funk­tio­nä­rin, sagt: “Ein Leben im Sperr­müll!”

Kann man nicht Museen aus den Kästen machen? Und für den neuen Bezirk ein neues Gericht, das die A‑Modernität des Inhalts nicht so krass aussagt wie die über­stän­di­gen Trutz­bur­gen? Darauf gibt es keine Hoff­nung.
Wenn Sie sich die Gebäude mal anse­hen, tun sie es am Sonn­abend. Wenn die Gigan­ten schla­fen. Als ich am letz­ten Sonn­abend, gegen zwei Uhr mittags, am Bahn­hof Klos­ter­straße ausstieg, war ich ganz alleine. Am hell­lich­ten Tag auf einem U‑Bahnhof plötz­lich ganz alleine sein, das ist ein merk­wür­di­ges Gefühl. Was für ein Gefühl?
Die Gebäude sind da, die Menschen sind fort: das H‑Bom­ben-Gefühl. Nein, das nicht: Von drau­ßen hört man das Auto­rau­schen. Es ist also das Gefäng­nis-Gefühl. Als wir Refe­ren­dare waren, muss­ten wir uns ein paar Tage einsper­ren lassen, damit wir wissen, wie es ist. Erst war es lustig, happe­ning, dann kam für lange Stun­den das Gefühl auf, das man hier hat: abge­sperrt, ausge­sperrt. Man ist hier in der Nähe zur Innen­ver­wal­tung, wo die Abschie­bun­gen befoh­len und geplant werden, bei Nacht und Nebel. Der Sena­tor nennt die Inhu­ma­ni­tät rechts­staat­lich. In einer solchen Gegend sind wir hier.
Im Ange­sicht des Litten­stra­ßen-Gerichts sitze ich gemüt­lich unter Kasta­nien, Spitz­ahorn, Linde. Ein Kirsch­baum, eine kleine Eiche, ein eber­eschen­ar­ti­ges Gesträuch. Stille. Die Gebäude stehen da, als ob sie kein Wässer­chen trüben könn­ten. Nicht die Gebäude müssen wir fürch­ten. Sondern die Menschen. Auf die wir ande­rer­seits hoffen müssen. Und einige von ihnen lieben wir. Sonn­abends, sonn­tags und alle Tage.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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Geschichte

Berlin und die Konfektion

“Die Geschichte der Berli­ner Konfek­tion ist zugleich die Geschichte derje­ni­gen deut­schen Indus­trie, die sich als erste den Welt­markt eroberte und den Ruf von deut­scher Arbeit und deut­schen Gewer­be­flei­ßes in die ferns­ten Länder trug…” (Der ‘Confek­tionair’ […]

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