Schon lange habe ich Lust, dem Anhalter Bahnhof einen Vormittag zuzusehen. Dem, was von ihm übrig ist. Um dann so schnell wie möglich den abwesenden Bahnhof mit einem gegenwärtigen zu vergleichen. Alles in Kreuzberg/Friedrichshain. In Oberbaum, wie der Bezirk im nächsten Jahrhundert vielleicht heißen wird. Jetzt ist aber noch 20. Jahrhundert. Das Jahrhundert der Zerschlagungen.
Als ich auf der wüsten Wiese stehe, in die der Bahnhof hinter dem ruinösen Mauerrest verwandelt ist, liegt ein halbes Jahrhundert zwischen mir und mir. Wer über 55 ist, hat manche der Zerschlagungen selbst erlebt. Er kann sagen: ich bin dabei gewesen.
Hier, wo ein Gitterzaun ein grünes Wofür-Wozu zwischen die kleinen Eichenalleen stellt, mit denen das Grünflächenamt den einstigen Bahnhof davor bewahren will, in Kultur-Steppe überzugehen, hier stieg ich in einen Zug. “Einsteigen” ist zwar das richtige Wort; aber man musste es damals 1942 oder 1943 im Anhalter Bahnhof viel wörtlicher nehmen, als man es nehmen würde, wenn man heute am Anhalter Bahnhof in einen Fernzug steigen könnte.
Als die Bomben fielen, lag ich auf einem roten Federbett, das eine Zinkbadewanne ausfüllte, die auf Kisten und Koffern aufgestapelt war, im Gang eines Eisenbahnwaggons, dicht unter dem Dach. Ich wusste nicht, ob es mein Vater auch geschafft hatte, “einzusteigen”. An die Angst kann ich mich noch erinnern, die mich ganz ausfüllte. Jedesmal erinnere ich mich an diese Angst, wenn ich unter dem Anhalter Bahnhof in einen Zug steige, obwohl es doch jetzt nur die harmlosen S‑Bahn-Züge sind.
In meiner Erinnerung ist der Bahnhof riesig. Auf den Bildern wirkt er wie ein Käfer aus Sciencefiction, der sich zwischen den Häusern niedergelassen hat und die Menschen verschlingt, die die Stadt in ihn hineinweist wie Athen die Jungfrauen in den Rachen des Labyrinths, in dem gefräßig der Menschen-Stier hauste.
Ich komme vom Tempelhofer Ufer am neuen und am alten Amtsgericht Tempelhof-Kreuzberg vorbei, wo die Justiz von damals sich mit der von heute denkmalsüchtig leicht verbindet. An dem schönen Postgebäude Möckern-/Ecke Hallesche Straße gehe ich in dem Gefühl vorüber, dass es sechs Jahre, nachdem es fertig war, auch leicht von der Erde hätte gebombt sein können, wie der Bahnhof gegenüber. Nun ist es 63 Jahre, so alt wie ich. Ich hätte hier, wo ich jetzt quer über die weite Rasenfläche aus Nichts gehe, auch unter den Bomben enden können, die aus dem Himmel Gottes herunterfielen auf mich Sechs- oder Siebenjährigen. Es ist Gott gewesen, der sie geworfen hat. Wenn es Menschen gewesen wären, hätte ich sie fragen müssen, ob ihnen geschichtliche Aufrechnung gereicht hat, um ihre Seelen vor Schwermut zu bewahren.
Weil der Bahnhof fort ist, steht er mir so nah. Seinem unterirdischen S‑Bahn-Terminal gelingt es nicht, Gegenwart über meine Erinnerungen zu legen. Ich fahre der Gegenwart nach. In Friedrichstraße umsteigen. In die S7 zum Ostbahnhof. Da ist man auf der Stadtbahn. Auf der Stadtbahn ist die S‑Bahn oben, im Licht. Die Viadukte verleihen den Zügen öffentlichen Stolz. Von der Stadtbahn ist die Stadt hell. Die Bahnhöfe sind lichte Hallen. Siebzehn Minuten unter dem Anhalter herauf bis in den Ostbahnhof hinauf. In der weiten Doppelhalle mischen sich Automatenstimmen mit menschlichen Direktstimmen. Die Automaten sind höflicher. Der Kaufhof ruft über den Vormarkt herüber: Weltstädte zu Gast. Es kommen ferne und nahe Züge. Die Bahnsteige und die Treppen glänzen graniten, die Geländer blitzen im Chrom.
“Vorsicht bei der Bereitstellung Ihres Zuges.” Die Bahn liebt die besitzanzeigenden Fürwörter, mit denen sie uns das Gefühl gibt, dass sie uns teilnehmen lässt an ihrem Reichtum. “Hoffmann von Fallersleben” nach Düsseldorf kommt mit langsamer Kraft herein. Er gibt sich Mühe, uns nicht zu erschrecken. Männer mit dunklen Mänteln und eckigen Taschen erscheinen kundig vor den Wagen der ersten Klasse. Draußen die Eltern oder Kinder, die sich mit gereckten Köpfen überzeugen, dass ihre Lieben drinnen die richtigen Sitzplätze finden. Mit den Fingerspitzen werfen sie Küsse durch die schwer zu durchschauenden Fenster.
Sie treten von einem Fuß auf den anderen. Die letzten Minuten vor der Abfahrt dauern lang.
“Bitte steigen Sie ein!”, sagt der Frauenautomat. Die Türen klacken zu. Die Draußenstehenden reden nun noch schnell und laut zu denen, die drinnen am Fenster winken und sie nicht mehr hören können. “Ruf gleich an, wenn du da bist.”
Auf den eleganten Holzbänken sitzen zwei Alte, denen die Züge ein Vergnügen sind. Ich kann mir sofort auch vorstellen, dass ich den Vormittag hier verbringen könnte. Mitten in der Bahnhofsgegenwart hätte ich das Gefühl von Ferne und Weite. Selbst der Zug nach Genthin oder Wittenberge in seiner roten Doppelstöckigkeit fährt von hier in die Welt.
Während ich die Rolltreppe hinab und hinauf wieder hinüber auf den S‑Bahnsteig gehe, habe ich das Gefühl, aus einem Sondertag hinüberzuwechseln in den Alltag. Die S‑Bahn ist immer in Berlin. Mit der S‑Bahn sind die Viertel der Stadt wie die Zimmer meiner Wohnung, in der ich auch umhergehe, ohne je das Gefühl von Fortgehen und Ankommen zu haben.
Ich fahre den Weg zurück. Im Augenblick, in dem ich in gotischen Lettern lese: “Anhalter Bahnhof” ist das Ost- und Hauptbahnhofsgefühl fort. Im Café Stresemann sitze ich in einem Interieur, das früher Schottenhammel hieß, noch früher Mokka-Express. Wer sich in Berlin amüsieren wollte, die paar Jahre vom Ende der Zwanziger bis zu den Bomben der Vierziger, der ging hierher. Gold-weiß-rot war der Tanzsaal des Europapalastes, an dessen Stelle seit Jahrzehnten eine Grube liegt mit einem Birkenwäldchen, das nun gefällt ist.
Der Anhalter Bahnhof ist jetzt bald so lange fort, wie er da war. Das Stresemann ist viel länger der Rest eines europäischen Unterhaltungspalastes, als es ein Teil davon war. Die Geschichte hat sich verflüchtigt. Die Geschichte ist aus.
Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)
Ähnliche Gedanken hatte ich vor einigen Jahren an diesem Ort:
Anhalter Bahnhof
Kalter Morgen an einem blauen Februar Sonntag.
Ein leerer Platz mit Fragmenten aus einer vergangenen Zeit.
Fast ist es gänzlich still auf dem Askanischen Platz,
nur ferne Kirchenglocken und ein paar Rufe vom nahen Fußballfeld.
Ein Zirkus aus Beton, ein kleiner Park mit dürren Bäumen
Rostige Gleise, leere Bahnsteige, Moos bewachsen.
Da steh ich nun und mein Atem wandelt sich zu Wolken in frostklarer Luft.
Stille, und doch nein, es scheint ein Wispern um mich herum zu sein.
Deutlicher wird es mit jedem Moment.
Ich höre Menschen reden und sehe Schatten sich bewegen.
Es sind Reisende von damals, bepackt mit Koffern, Säcken, Taschen.
Sie hasten zu ihren Zügen, die langgestreckt auf den Gleisen stehen,
fliehen aus der Stadt, die keinen Schutz mehr bieten kann.
Gesichter schmal, nicht fröhlich, voller Sorge, wo werden sie morgen sein?
Schrille Pfiffe von Lokomotiven, Dampfwolken ausstoßend, Kinder weinen. Geruch verbrennender Kohle, Öl, Eisen.
Die Schienen sind blank geworden, sie summen unter meinen Füßen.
Ich schau mich um und sehe die Veränderung.
Sehe einen großen Bahnhof ohne Dach.
Sehe den grauen Himmel, wo einst Gespinst von Stahl die kühne Kuppel trug.
Sehe Ruinen rings umher, leere Fenster im Excelsior-Hotel.
Sehe alte Menschen — auf ihrer letzten Fahrt — nach Theresienstadt.
Als der Bahnhof noch Schutz bot, schützte sie niemand.
Ein gellender Pfiff des Schiedsrichters weckt mich aus meinem Tagtraum.
Bin froh drüber, lebe hier und jetzt, lebe im Frieden,
muss nicht Sorge haben, in der Nacht geweckt zu werden von Sirenen.
Wenn meine Nachbarn mal weg sind, sind sie wahrscheinlich in der Sonne.
Flugzeuge am Himmel lassen mich an ferne Länder denken, nicht an Bomben.
Ein paar Schritte noch zum Kanal, dann bin ich am Ziel.
Sonne glitzert golden auf dem trägen Wasser, wenn man sie lang genug auf das Gesicht scheinen lässt, kann man Frühling ahnen.
@ Tom:
Sehr schöner Text! Ich musste sofort an den ersten Satz in Heinz Knoblochs Buch “Herr Moses in Berlin” denken: “Misstraut den Grünanlagen!” Er beschreibt, dass so manch heute schöner Ort in Berlin eine grausige Geschichte hat. Die Grünanlagen verdecken sie. Das passt auch für diesen Ort.