Es ist, es war, es ist gewesen

Wer am zwei­ten Januar-Sonn­tag den Zentral­fried­hof Fried­richs­felde besucht, der wird wissen, was er während­des­sen zu denken hat. Sechs­und­vier­zig Jahre, Januar für Januar, gibt es auf diesem Fried­hof Massen-Demons­tra­tio­nen. An sich ist es eine abge­le­gene Gegend.
An diesem windig-regne­ri­schen Donners­tag, an dem man kaum den Schirm halten kann, wird mir der Weg lang. Ich habe nasse Füße, ehe ich da bin. Ich bin am U‑Bahnhof Magda­le­nen­straße ausge­stie­gen, durch das alte Stasi-Gelände, an Gericht und Kirche vorbei, Fannin­ger- und Gudrun­straße ostwärts gegan­gen. Die Bahn im Süden, die Klein­gär­ten im Osten legen den Toten­acker in einen stil­len Stadt­win­kel. Man kommt hier nicht zufäl­lig vorbei. Man muss hinge­hen.
Der Fried­hof fing vor 117 Jahren als Armen­fried­hof an, auf dem das Totsein nichts kostete. Er hat eine bedeu­tende Karriere gemacht. Er kommt in vielen Biogra­phien vor, in solchen, deren Akteure tot sind, und in solchen, deren Inha­ben lieber im Januar hier­her kamen, als am 1. Mai in die Kar-Marx-Allee. Im Sommer habe ich auf der glat­ten Stein­platte geses­sen, die das Grab von Rosa Luxem­burg bedeckt, und im Bienen­ge­summ und Vogel­ge­zwit­scher fiel es mir leicht zu wissen, dass vorbei ist, was war.

Heute lasse ich die Gedenk­stätte der Sozia­lis­ten rechts liegen. Der Weg ist gefähr­lich: “Gehweg­schä­den” warnt das Bezirks­amt. Vor einem Regen­schauer stelle ich mich unter, lese die Anschläge. Vor Taschen­die­ben wird gewarnt. Ich studiere den stei­ner­nen Lage­plan. Ein Mann tritt hervor. “Was suchen Sie, junger Mann?”, sagt er, eine reine Frage ist das nicht. Nicht alle Toten hier sind ganz tot; manche sind viel­leicht in eine allge­meine Bedeu­tung über­ge­gan­gen, die mit dem Staat zu tun hat und also bewacht werden muss wie die meis­ten Symbole.
Ich gehe die Eingangs­al­lee entlang, ein genaues Ziel habe ich nicht. Ich beziehe mich zunächst auf die durch goti­sche Lettern gewie­sene Feier­halle. Auf der Wiese davor, unter einem Baum, von dem die Blät­ter fallen, stellt im hefti­gen Wind ein Mittel­al­ter einen Noten­stän­der auf und holt eine Trom­pete aus der Verklei­dung, übt ein paar Töne, bläst sich ein, ich erwarte eine Trau­er­ge­sell­schaft aus der Halle, links hinten sehe ich eine frische Grube; während der Sarg hinab sinkt, wird der Trom­pe­ter “Ich hatt einen Kame­ra­den” spie­len, die Tränen werden flie­ßen. Es dauert mir im kalten Wind aber zu lange, bis jemand kommt.
Ich steige zu dem schwar­zen Turm hinauf, der weiter hinten auf dem klei­nen Hügel steht. Eine Serpen­tine führt zu ihm, er ist vermau­ert und verschlos­sen. Ich finde keine erklä­rende Schrift, nur an der Eisen­tür in blauem Spray: “FC Bayern München”. Hier hat man einen schö­nen Blick auf die Klein­gar­ten­ko­lo­nie, die sich zur rauen Rhin­straße hinzieht, von der ein rotgel­ber Plat­ten­bau herüber sieht.

Der Fried­hof ist von ruhi­ger Land­schaft­lich­keit; es gibt manches Hinauf und Hinab. Die Gräber wirken an manchen Stel­len wie Verzie­run­gen. Hier im Norden sind viele Inschrif­ten verwischt. Jetzt höre ich doch den Trom­pe­ter. Er spielt “Kein schö­ner Land…” Oder verhöre ich mich? Der Sturm frag­men­tiert die Melo­die. Es ist wohl doch “Ich hatte einen Kame­ra­den”. Kommen hat seine Zeit und gehen, fest­hal­ten und loslas­sen. Hinten sinkt Kannit­ver­stan in die Grube. Mir kommen die Tränen. Ich lasse sie ein biss­chen flie­ßen. Das ist nichts als Senti­men­ta­li­tät, sage ich mir nach einer kurzen Weile. Darauf­hin versie­gen die Tränen.
Ich bin durch ein Birken­wäld­chen ganz an das Ende des Fried­hofs gelangt, ich gehe auf dem letz­ten Weg auf dunk­ler, nasser Erde an den dicken grünen Rohren entlang, bis zu dem unauf­fäl­li­gen Denk­mal eines Denk­mals. Hier stand knappe neun Jahre lang das Revo­lu­ti­ons-Denk­mal, zwölf mal vier mal sechs Meter, rechts ein Stern aus Stahl (2 Meter), links: “Ich war — ich bin — ich werde sein”. Von Frei­li­grath, glaube ich.
Das Denk­mal von Mies van der Rohe, 1935 von ande­ren Deut­schen zerstört, seit 1985 von diesem Ersatz­denk­mal vertre­ten. Ich weiß, dass alles unterm Mond vergeht / Und dass, was Sterb­li­che hervor­ge­bracht, / Der Zeiten Umschwung wieder stürzt in Nacht. Auch von Frei­li­grath. Jetzt hilft gegen den immer hefti­ger werden­den Regen kein Schirm mehr. Ich nehme den direk­tes­ten Weg zurück. Der schnur­ge­rade Weg, der von der Feier­halle abwärts führt, endet im Rücken der Sozia­lis­ten-Gedenk­stätte als Sack­gasse, direkt an der S‑Bahn. Man kann sich fast bei allen Namen etwas denken, die man hier liest, aber es ist schwer, die Gedan­ken in eine brauch­bare Ordnung zu brin­gen. Hinter der Gedenk­stät­ten­mauer ragt ein Stück der schwar­zen Stele für Singer hervor; sein Begräb­nis war das massen­haf­teste jemals in Berlin, mehr Menschen hätten auch für Bebel selbst nicht kommen können. Und wenn Ebert nun hier ruhte und Noske, denke ich, während der Regen pras­selt, waren auch Sozia­lis­ten­füh­rer, gehör­ten wohl auch hier her oder verböte es ihr Beitrag zum Tod von Rosa, dass sie in ihrer Nähe nach geschicht­li­cher Hoch­ach­tung verlang­ten? Ein Fried­hof ist nicht da, um Fragen zu stel­len. Die Toten antwor­ten nicht. Sie mahnen, steht auf dem Vier-Meter-Porphyr. “Die Toten mahnen.”

Von Wilhelm Pieck. Wozu mahnen sie uns denn? Haben alle Toten nur eine einzige Stimme? Sagen sie alle dasselbe? Walter Ulbricht dasselbe wie Rosa Luxem­burg? Oder gibt es unter ihnen auch solche, die sich sagen: tot ist tot, und infol­ge­des­sen schwei­gen? Der Platz ist leer, das Volk hat sich verlau­fen / Dein Reich ist aus — Ja, ich verhehl es nicht.
Am Eingang gibt es ein mate­ri­al­rei­ches Heft der Verei­ni­gung ehema­li­ger Teil­neh­mer am anti­fa­schis­ti­schen Wider­stand, Verfolg­ter des Nazi­re­gimes und Hinter­blie­be­ner. Berich­tend von der Demons­tra­tion gegen die Staats­de­mons­tra­tion hier am 14.1.1988 versucht sie Rosas schöns­ten Satz zu zitie­ren. Er lautet rich­tig: Frei­heit ist immer Frei­heit des anders Denken­den. Mit einem “auch” statt des origi­na­len “immer” ist es für die meis­ten von uns erträg­li­cher. Wir wollen Tränen weinen, die schnell trock­nen.
Im “freßco” in der Nähe unse­rer Redak­tion trinke ich einen Kaffee, ehe ich an meinem Schreib­tisch diesen Text zu schrei­ben beginne.

An einem hinte­ren Tisch sitzt eine junge Frau, die dem jungen Mann, den sie zu lieben scheint, offen­bar um vieles über ist; sie hat ein Buch vor sich liegen, redet auf eine inten­sive, zupa­ckende Weise. Als sie aufsteht, um an der Theke für beide zu zahlen, gibt sie sich Mühe, so zu gehen, dass man das leichte Hinken nicht sieht. Von hier aus sind es ein paar Schritte bis zum “Vorwärts”, in dem Rosa Luxem­burg Hunderte von Arti­keln geschrie­ben hat. Die Fahne der SPD flat­tert dort in dich­ter Nähe jetzt über einem Gebäude der Post­mo­derne. Rosa ist tot. Worte von ihr liegen in der Luft, jeden­falls eines: Frei­heit ist immer… An den Minder­hei­ten beweist sich Kultur.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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Zwanzighundert

Ein Begriff ist ganz beson­ders mit der Kanz­ler­schaft von Gerhard Schrö­der verbun­den: Agenda 2010, gespro­chen “Zwan­zig­zehn”. Das ist ein Bruch mit der bishe­ri­gen Zählung, denn bis vor zehn Jahren sagten wir Acht­zehn­hun­dert, Neun­zehn­hun­dert­zehn usw. Außer […]

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