Was macht Melanie?

An diesem Winter­sonn­abend machte ich eine Rund­reise mitten durch Berlin, ihr Wende­punkt lag in Neukölln; der Brun­nen der Vergan­gen­heit ist fast ein Drei­vier­tel­jahr­hun­dert tief.
In der U7, mit der die Reise am Adenau­er­platz begann, saßen mir zwei Knaben gegen­über, 10- oder 11-jährig:
“Und was macht Mela­nie? Sie sagt es Nancy! Und Nancy sagt zu mir: Du hast zu Mela­nie gesagt … Nee, hab ich gesagt: Ich hab das nich gesagt. War’ne Lüge. Aber doch aus Not. Wat sollt ich machen? Wie hätt ich denn dage­stan­den mit der Wahr­heit!”
Der Kollege in der weiten Winter­s­tepp­ja­cke wiegt bedäch­tig den Kopf, damit sagt er: “Ich weiß nicht, ich weiß nicht!”
Die beiden Alltags­phi­lo­so­phen stei­gen auch Rathaus Neukölln aus. Im Weih­nachts­tru­bel dieses Sonn­abend­vor­mit­tags wird die Wahr­heits-Frage schnell unter­ge­hen.
“Freude, Frei­heit, Fun — oder Frust; Trubel, Träume, Treue — oder Tränen”, das sind andere philo­so­phi­sche Fragen aus der U‑Bahn; die Antwort ist: “Ihr Ausse­hen entschei­det”; also zum Friseur. Er hat sein Geschäft in der Anzen­gru­ber­straße. Dort stehe ich jetzt, neben: Braut- und Fest­mo­den, rot-golden geschmückt, drin­nen der Meis­ter im Rücken einer Kundin, mit der er über den Spie­gel kommu­ni­ziert, um ihr — sagen wir Freude und Treue zu ermög­li­chen. Da liegt die Lebhaf­tig­keit der Karl-Marx-Straße für heute schon hinter mir. An der Ecke Anzen­gru­ber-/Donau­straße habe ich eindrucks­vol­len Blick auf das berühmte Stadt­bad in der Gang­ho­fer­straße, das schon vor dem ersten Mord­krieg fertig war, der “Urka­ta­stro­phe des Jahr­hun­derts”.

In der Straße herrscht gesam­melte Ruhe, wenn auch: “herrscht” sollte ich nicht sagen, denn die Stim­mung hat nichts Verord­ne­tes und Regier­tes. Eine junge Mutter spielt mit ihrem Klei­nen auf dem winter­li­chen Kinder­spiel­platz, der in der Stra­ßen­front liegt; in den schwar­zen Bäumen tschil­pen und zwit­schern in Scha­ren die Spat­zen; was wäre die Stadt ohne die gesel­li­gen Sper­linge, die Sing­vö­gel der Groß­stadt, die den Staub lieben und die Menge, selbst bei der Liebe. Spatz nannte meine Mutter mich, als ich ein Kind war.
Auf dem Sport­platz an der Finow­straße wird Fußball gespielt auf dem Schnee; am Ende versam­meln sich die Mann­schaf­ten nach altem Amateur­brauch in der Mitte und rufen gemein­sam was, das wie “Hurra, Hurra, Hurra” klingt. Wir riefen früher: “Gut Heil”, oder erin­nere ich mich falsch? Wie kann man “Heil!” rufen in Deutsch­land, wo man von morgens bis abends tausend‑, millio­nen­fach einem Schwerst­ver­bre­cher Heil gewünscht hatte? Mit solchen Gedan­ken sinke ich — ehe ich durch die Kleine Innstraße die Innstraße erreicht habe — noch tiefer ab aus der Gegen­wart. Wohin?

Jetzt stehe ich vor der eindrucks­vol­len Back­stein-Band-Fassade, die der “Werra-Block” zur Innstraße zeigt.
“Keine trockene Sach­lich­keit, keine Lebens­angst lebens­mü­der Gehirn­akro­ba­ten — Phan­ta­sie! Phan­ta­sie aber kein Toll­haus — beherrscht durch Raum, Farbe und Licht.” So schrieb Erich Mendels­ohn über seine Back­stein-Band-Häuser in der Cice­ro­straße in Wilmers­dorf, ich kam daran vorbei vorhin, ehe ich in die U7 einge­stie­gen bin. Aber Paul Mebes und Paul Emme­rich waren hier in Neukölln, Inn‑, Weser‑, Rosegger‑, Werra­straße, früher dran als er am Kudamm, wo die Welt viel­leicht aufmerk­sa­mer zuguckt. Mebes und Emme­rich — für mich sind das Spit­zen­ar­chi­tek­ten der ersten deut­schen Repu­blik.
Zur Werra­straße öffnen die gebän­der­ten Blocks einen Hof, dessen fried­volle Anlage sich erst dem erschließt, der weiter hinein­geht und den Bauzweck des Quer­baus begreift: Hof- und Hof-Garten-Bildung, unter­schied­li­che Ruhe- und Erho­lungs­räume für Kinder und Erwach­sene, Stadt und Nicht­stadt zugleich: ein archi­tek­to­ni­sches, städ­te­bau­li­ches Meis­ter­stück. Da steht es.
Als der Bau gerade ange­fan­gen war, starb Fried­rich Ebert, gequält, verquält, der SPD-Vorsit­zende, erster Reichs­prä­si­dent der ersten deut­schen Repu­blik, der der geschicht­li­chen Stunde nicht gewach­sen gewe­sen war, 1914 nicht, 1919 nicht; Hinden­burg, der Kriegs­herr, wurde sein Nach­fol­ger, die deut­sche Mehr­heit wollte den Mann, dem Mord und Totschlag zur Last fielen, aber das sahen die meis­ten nicht so, ein hoher Gene­ral ist für viele kein Mörder und Totschlä­ger, und Krieg ist nicht Mord und Totschlag, aber was dann? Die fran­zö­si­sche Besat­zungs­macht rückte aus dem Ruhr­ge­biet ab, der Reichs­kanz­ler hieß Luther; er trat zurück, als Hinden­burg die Farben von gestern, Schwarz-Weiß-Rot, wieder offi­zi­ell machte; der Nach­fol­ger hieß Marx, ein ganz ande­rer als der Stra­ßen­pa­tron von vorne. Das war 1925/1926: die Jahre, in der der Beam­ten-Wohnungs­bau-Verein diesen beispiel­haf­ten Wohn­block an der Werra­straße bauen ließ, Mebes & Emme­rich wie gesagt — die Archi­tek­ten, Rich­ter & Schä­del die Baufirma.
Die Namen sind verges­sen. Die Geschichte hat aufge­hört. Die Häuser sind da. Es ist eine ruhige Gegend.
“Vorsicht! Ich über­hol Sie!” Eine freund­li­che Frau mit Einkaufs­tü­ten in beiden Händen geht an mir vorüber, während ich dastehe und aufschreibe, was ich sehe. Und höre. Zwei Jungen trödeln des Wegs, viel­leicht auch 10, 11-jährig:
“Und was hat dein Vater gesagt?”
” Was mein Vater gesagt hat? Ick versteh die heutige Jugend nich mehr! Immer sagt er: er versteht die Jugend nich! Und was ick nich verstehe, das sind die Eltern von heute! Und die verstehn sich auch selbst nich.”
“Meine Eltern verstehn sich auch nich.”
Der Kinder­spiel­platz liegt unterm Schnee. Zum Neuköll­ner Schiff­fahrts­ka­nal ist es nur ein klei­nes Stück. An das Gelän­der gelehnt schaue ich zurück auf die Fassa­den von Mebes und Emme­rich, die von hier aus eine verber­gende Mauer­haf­tig­keit anneh­men, durch die sich die fast para­doxe Inti­mi­tät der Anlage kaum ankün­digt. Die Meis­ter prot­zen nicht, sie bauten nicht für die Kunst- und Bilder­bü­cher, sondern für die Leute. Dafür gibt es in Berlin viele Beispiele.
Während ich den Schnee­weg am vereis­ten Kanal entlang gehe, Weig­an­d­ufer, an der Ulster­straße vorbei, die mit ihrem umheck­ten Mittel­strei­fen wirk­lich was Engli­sches hat, in London würde man das einen Court nennen, einen Stadt­hof, öffent­lich und privat zugleich, wie es das Kenn­zei­chen der Groß­stadt ist. Ich verweile einen Augen­blick auf der Trep­tower Brücke, wo ich mitten im Winter plötz­lich eine Empfin­dung von Südlich­keit habe; mit Vene­dig hat Neukölln nicht sehr viel Ähnlich­keit, aber ein biss­chen doch. Dieses Empfin­den erfüllt mich, während ich zur freund­lich benann­ten Sonnen­al­lee zurück­kehre, wo sich — mit Berlins größ­tem Hotel hinten — die Peri­phe­rie zum Zentrum macht. Vom Bahn­hof Sonnen­al­lee bin ich mit der S4 in guten zwan­zig Minu­ten am oberen Kudamm, wo ich wohne und jetzt diesen Text schreibe voller Verwun­de­rung über die Schnel­lig­keit, mit der in Berlin die Stadt­stim­mun­gen wech­seln.
Woan­ders als in Berlin möchte ich nicht leben.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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