Das A

“Anar­chie ist mach­bar, Herr Nach­bar!” Vor 40 Jahren war dieser Spruch für mich wirk­lich wich­tig — und realis­tisch. Halb Kreuz­berg und Steglitz erfreute sich an meinen gesprüh­ten “A“s mit Krin­gel drum, einige hundert Haus­wände habe ich damit verschö­nert. Es war das Zeichen meiner Jugend, aber doch schon mehr als eine Schwär­me­rei. Und das ist es bis heute.
Dieses A symbo­li­siert für mich Frei­heit, als Jugend­li­cher war das vor allem die Frei­heit vom Vater, von den gesell­schaft­li­chen Konven­tio­nen. Ich wollte nicht so sein, wie es von mir erwar­tet wurde. Also bezeich­nete ich mich als Anar­chist und traf damit genau den Nerv meines Vaters. Bei unse­rem letz­ten Tref­fen, 1980, nannte er mich deshalb auch einen Terro­ris­ten. Für ihn war es, wie für die Medien, das glei­che. Bis heute werden linke Gewalt­tä­ter gerne als Anar­chis­ten bezeich­net. Dabei ist das Blöd­sinn, genauso könnte man sie als Bäcker bezeich­nen, denn einige sind ja viel­leicht welche.
Das Problem liegt schon in der Defi­ni­tion: Wollen Anar­chis­ten nun die Anar­chie oder den Anar­chis­mus? Das ist ja nicht dasselbe. Anar­chie bedeu­tet eigent­lich nur, dass es keine Herr­schaft gibt, Unord­nung, Chaos, alles Böse der Welt. Anar­chis­mus aber bezeich­net ein Gesell­schafts­sys­tem, schon eine Ordnung, die aber ohne Herr­schaft auskommt. Es baut darauf, dass der Mensch als sozia­les Wesen in der Lage ist, sich ohne Zwang mit seiner Umwelt zu verstän­di­gen und sein Leben zu orga­ni­sie­ren, ohne dass er dazu Gesetze und eine Ordnungs­macht braucht. Alle Menschen nehmen ihre soziale Verant­wor­tung wahr, es gibt keine Ausbeu­tung und Unter­drü­ckung ande­rer. Das schließt schon bestimmte Wirt­schafts­sys­teme aus und auch demo­kra­ti­sche Entschei­dun­gen. Nicht die Mehr­heit bestimmt, sondern alle  — für sich und gemein­sam.

Spätes­tens an diesem Punkt kommt der Einwand, dass das nicht funk­tio­nie­ren kann und es eine Utopie ist. Zumin­dest für die heutige Zeit stimmt das sicher. Solange es auf der ganzen Welt ein solch riesi­ges Ungleich­ge­wicht gibt, Menschen zu Milli­ar­den ausge­beu­tet werden und ganze Völker in Krie­gen oder Bürger­krie­gen stecken, solange gibt es keine Basis für eine anar­chis­ti­sche Gesell­schaft. Fast alle Menschen werden im Bewusst­sein erzo­gen, dass sie in Konkur­renz zuein­an­der stehen und dass es ein “Oben” gibt, dem man sich unter­zu­ord­nen hat. Wobei dieses Oben die Regie­rung sein kann, eine Reli­gion, oder aber das Geld mit all seinen Auswüch­sen. Wenn heute auf einen Schlag alle Regie­run­gen und Staa­ten abge­schafft würden und sämt­li­che Reli­gio­nen aufge­löst, würde daraus sicher nicht eine Gesell­schaft aus gleich­be­rech­tig­ten Menschen entste­hen, die sich soli­da­risch orga­ni­sie­ren. Statt­des­sen würden sich die Stärks­ten durch­set­zen, Dikta­tur und Faschis­mus wäre das Ergeb­nis.
Für eine solch freie Gesell­schafts­ord­nung wie den Anar­chis­mus müssen die Menschen reif sein. Sie, wir alle, müssen begrei­fen, dass ein Mitein­an­der besser ist als ein Gegen­ein­an­der. Mit diesem Grund­prin­zip müss­ten schon die Kinder aufwach­sen. Und sie soll­ten es als beste Form des Zusam­men­le­bens erken­nen.
Daher kann der Anar­chis­mus nicht kurz­fris­tig z.B. über einen welt­wei­ten Sturz der bestehen­den Systeme entste­hen. Er muss sich entwi­ckeln, paral­lel dazu, dass Ausbeu­tung und Unter­drü­ckung abge­schafft werden.

Eine naive Spin­ne­rei?
Ja, es ist eine Utopie, aber sie ist nicht naiv. Denn letzt­end­lich geht es nur darum den Grund­be­dürf­nis­sen des Menschen gerecht zu werden: Gemein­schaft und soziale Sicher­heit, kein Hunger, Leben ohne Kriege, ohne Fremd­be­stim­mung.
Utopie?
Ja, aber nicht unrea­lis­tisch. Natür­lich gibt es tausend Argu­mente, wieso das nicht funk­tio­nie­ren würde. Dabei lehrt uns die Geschichte, dass es Verän­de­run­gen gibt, die man kurz vorher nicht für möglich gehal­ten hätte. Wer hätte z.B. 1989 geglaubt, dass es schon fünf Jahre später eine der beiden Groß­mächte nicht mehr geben würde? Dass elf Jahre danach eine DDR-Bürge­rin Bundes­kanz­le­rin wird? Oder weitere vier Jahre später ein Schwar­zer US-Präsi­dent? Noch heute leben Menschen, die unter einem Kaiser gebo­ren wurden. Frauen durf­ten nicht wählen. Die Arbei­ter waren völlig recht­los. Millio­nen von Menschen waren das Eigen­tum von Kolo­ni­al­her­ren.

Natür­lich sind auch heute viele Rechte nicht umge­setzt und noch immer gibt es eine unge­heure Armut, Folter, Rassis­mus, unmensch­li­che Arbeits­be­din­gun­gen. Aber es geht um die wich­tige Erkennt­nis: Nichts bleibt, wie es ist. Die Menschen lernen welt­weit, dass man etwas verän­dern kann. Dass sie etwas verän­dern können. Und sie tun es auch. Mal gibt es große Schritte, Revo­lu­tio­nen, mal kleine, durch Wahlen. Heute sind Parteien wie die Grünen und die Pira­ten möglich. Vor hundert Jahren noch hätte man denje­ni­gen ins “Irren­haus” gesteckt, der so was prophe­zeit hätte.
Die Menschen setzen sich immer mehr für ihre Rechte ein, Protest ist heute aner­kannt und keine Majes­täts­be­lei­di­gung mehr.

Wich­tig ist, dass man das Bewusst­sein hat, etwas verän­dern zu können. Die Welt ist im Wandel, weil über­all die “einfa­chen Menschen” aktiv werden. In Arabien stür­zen sie Dikta­tu­ren, sie demons­trie­ren in China, empö­ren sich in Deutsch­land. Je mehr Einzelne von uns was machen, umso schnel­ler geht es. Die Verän­de­rung muss zur Norma­li­tät werden, keine Ausnahme blei­ben. Und weil einem nichts geschenkt wird, muss man stän­dig für eine Verbes­se­rung eintre­ten. Dafür, dass die Fabri­ken saube­rer werden, die Arbei­ter mehr Rechte bekom­men, dass Flücht­linge menschen­wür­dige Hilfe erhal­ten, dass die Armut effek­tiv bekämpft wird, statt an ihr zu verdie­nen. Die Liste ist lang und wer will, findet einen Platz, um für Verän­de­run­gen einzu­tre­ten.
Ich weiß, dass ich eine freie, eine anar­chis­ti­sche Gesell­schaft nicht mehr erle­ben werde. Es wird noch einige Gene­ra­tio­nen brau­chen, bis die Menschen so weit sind. Es wird eine lange Entwick­lung sein, aber ich bin mir sicher, dass sie kommt. Denn die Entwick­lung hat schon längst ange­fan­gen.

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5 Kommentare

  1. was für einen schlauen Bruder ich habe.

    Viel­leicht hat die Entwick­lung schon ange­fan­gen, aber ob es wirk­lich bis zum Schluss (einer anar­chis­ti­schen Gesell­schaft) kommt, möchte ich — solange es sich um Menschen geht — bezwei­feln. Müss­ten da nicht ALLE mitma­chen? Ich glaube, dass da ein Natur­ge­setz dage­gen steht = das Gesetz des Stär­ke­ren.
    OK, lasst uns die Welt verbes­sern, aber anar­chis­ti­sche Gesell­schaf­ten haben keine Chance

  2. Natür­lich bin ich der schlauste Bruder den gibt!

    Ansons­ten bin ich ja Opti­mist und selbst wenn es dieses Gesetz des Stär­ke­ren gibt bedeu­tet es nicht, dass diese Stärke zur Unter­drü­ckung ande­rer ausge­nutzt wird.
    Es ist eine Frage des Bewusst­seins und das zu ändern, dauert natür­lich.
    Und doch: Eine anar­chis­ti­sche Gesell­schaft wird eine Chance haben!

  3. Wenn es dann soweit ist und die Gleich­be­rech­ti­gung aller Menschen Wirk­lich­keit gewor­den ist.

    Schlage ich vor allen “Stein­zeit­men­schen” ’nen Platz auf ’ner abge­le­ge­nen Insel zu spen­die­ren. Dort können sie dann ihren “Natur­ge­set­zen” Folge leis­ten.

    Das ist zwar nicht gleich­be­rech­tigt, aber artge­rechte Haltung… wa ;)

    No Borders, No Nation, No God, No Masters!

    Danke für diesen Arti­kel. Have a nice day. (A)

  4. Moin

    In letz­ter Zeit werden von Dir die Asbach-uralt-Kamel­len aus z.T. von vor 10 Jahren aus der Motten­kiste geholt.

    Mach doch mal eine Krea­tiv­pause und hör auf Dir stän­dig auf Deine ange­staubte Frei­zeit-Revo­luz­zer-Schul­ter zu klop­fen.

    Schreib was über die Kieze von Berlin von heute oder so… Wenn es geht … !

    Gruß von einem Alt-Rauch-Häus­ler, den seine eigene Vergan­gen­heit kaum noch inter­es­siert.

    • Hallo Peer van Daalen. Ich finde nicht daß das alte Kamel­len sind. Auch wenn der Text offen­bar schon 10 Jahre alt ist. Es geht mehr um die Zukunft als um die Vergan­gen­heit. Darum finde ich den Arti­kel sehr gut auch wenn ich den Opti­mis­mus des Autors nicht teile.

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