Die Mitte herausgeschnitten

Wer die Stadt­ge­gend west­lich und östlich der Lohmüh­len­in­seln, von Land­wehr­ka­nal und Flut‑, frühe­rem Frei­ar­chen­gra­ben, am Schle­si­schen Busch kannte in den Zeiten ihres Mauer­schlafs, der wird sobald nicht aufhö­ren, sich über ihre wieder­ver­ei­nigte Verwand­lung zu wundern und zu freuen. Fast 40 Jahre Geschichte sind hier so fort, als hätte es sie — da mag der Grenz­turm so fins­ter blicken wie er aus seiner Übrig­ge­blie­ben­heit kann — nie gege­ben. Dass Geschichte vor allem Verges­sen heißt, diese Geschichts­lehre könn­ten wir derzeit frei­lich an vielen Plät­zen in Berlin lernen. Aber solche Frei­ar­chen- und Busch­sätze gehö­ren gar nicht in den gängi­gen Kanon des Bescheid wissens.
Das erste bedeu­tende Zeichen der verän­dern­den Erneue­rung setzte hier die Bewag mit ihrem mächti­gen Verwal­tungs­ge­bäude: ein archi­tek­to­ni­sches Spit­zen­stück (von Axel Liepe und Hart­mut Stei­gel­mann) mit so wenig Mängeln, dass man es ein Meis­ter­werk nennen könnte. Gegen­über führt die Eichen­straße von der hoch­her­zi­gen Pusch­kin­al­lee zur Spree und eröff­net — eine ziem­lich alte Straße, älter als 100 Jahre — einen das Stadt­ge­müt aufrich­ten­den Weg zwischen Gewe­se­nem, Werden­den und ganz neu Gewor­de­nem. Mit der Maschi­nen­fa­brik von Carl Beer­mann stieg die Gegend aus dem Land­schaft­li­chen ins Indus­tri­elle auf, die Indus­trie rückte von Westen her vor. Die Shed­hal­len, die Bruno Buch für diese Firma 1915, mitten im Welt­krieg, viel­leicht zur Herstel­lung von Tötungs­werk­zeug, baute, sind noch da; 1925 baute Franz Ahrens sie für die “Allge­meine Berli­ner Omni­bus AG”, die eins­tens berlin­be­rühmte ABOAG zur Werk­statt um, und im Jahre darauf errich­tete er die stütz­frei über­dachte große Omnibus­halle: heute “Arena”, eine Arena: “Auch hier ist ein Spiel­ort des Thea­ters der Welt” steht vor dem entbus­ten Gebäude; dann noch ein vier­ge­schos­si­ges Wohn­haus und ein Werk­statt­ge­bäude von einem drit­ten Architek­ten: ein expres­sio­nis­ti­sches Archi­tek­tur­gan­zes, vor allem aber ein Indus­trie­denk­mal und über­haupt ein Berli­ner Geschichts­ort: Stadt- und Ring‑, Hoch- und Unter­grund­bahn, die Omni­busse erst mit Pfer­den, dann mit “Kraft” und die Stra­ßen­bah­nen, die viele ältere Berli­ner deshalb nicht mit dem modisch­englischen Kurz­na­men Trams nennen wollen, machen einen wesent­li­chen und — bis die Autos kamen und der “Indi­vi­du­al­ver­kehr”- den wesent­lichs­ten Teil der Beweg­lich­keit der Metro­pole Berlin aus.

So verführt den Nach­denk­li­chen die West­seite der Eichen­straße ins Gewe­sene, wie ihn die Ostseite in die lebhaf­teste Nach-Mauer-Gegen­wart versetzt. Ein schö­ner Weg führt am Ufer entlang. Der Blick auf die Spree zeigt Berlin in einer Weite und Offen­heit als läge es am Meer. Die Twin-Towers werden umso höher je näher man ihnen kommt. Auf dem obers­ten Balkon des vorders­ten der gelben Wohn­häu­ser, die zwischen den Towers, wie hier die Türme heißen, zum Wasser vordrän­gen, gießt eine junge Frau ihre Gerani­en und sieht den Schif­fen zu: ist drau­ßen und drin­nen zugleich, in einer Berlin-Befind­lich­keit, die sich nun schon manchen moder­nen Platz gefun­den hat. Dieses Areal von Häusern und Höfen, das sich zu den — durch die Firmen­über­schrift nun leider verun­stal­te­ten — Trep­towers hinzieht, ist von den Archi­tek­ten Span­gen­berg und Fehse städ­te­bau­lich geplant. Ein klei­ner Berlin-Ruhm gehört ihnen. An der weißen Mauer zum Trep­towers-Innen­hof wächst Wein und Efeu. Ein Gärt­ner arbei­tet wie in einem Schloss­hof.
Auf dem Wasser stehen drei flache durch­lö­cherte Riesen, von denen man immer nur zwei sieht, sie umar­men und begrü­ßen sich und machen den Ein­druck, dass sie sich freuen, hier blei­ben zu dürfen.

Wir dage­gen folgen unse­rem Plan einer Bezirks­durchquerung von Trep­tow und Köpe­nick, den bald verei­nig­ten, von einem Hause des Massen­ver­kehrs zu einem ande­ren. Vom frie­sen­blauen S‑Bahnhof Trep­tower Park brau­chen wir dafür mit S4, S3 und Tram 62 eine knappe Drei­vier­tel­stunde, ehe wir nach der schwer zu durch­que­ren­den Altstadt Köpe­nicks an der Halte­stelle Betriebs­hof Köpe­nick ausstei­gen. “Betriebs­hof” heißt der Funk­ti­ons­name: Depot der Städ­ti­schen Stra­ßen­bahn Köpe­nick, 1903 bis 1906 vom Stadt­bau­meis­ter Hugo Kinzer gebaut, am Rande des Fischer­kiezes, der drei Stra­ßen weiter mit Judis‑, Brei­ter — und Naumanns­gasse zum Wasser, zum Frau­en­tog und an die Insel des Schlos­ses heran­ragt. Auch das Stra­ßen­bahn­de­pot ist ein Schloss. 12 Tore hat die große Halle unter zwei sechs­tei­lig geschwun­genen Giebel­fel­dern, die mit Klin­ker-Mustern so geord­net und zurück­hal­tend geschmückt sind, als soll­ten sie Menschen Eindruck machen, die die Alham­bra im Herzen tragen.
Da könn­ten wir nun anfan­gen, uns Gedan­ken darüber zu machen, aus welchem Gemisch von Maschi­­nen- und Kunst­ge­dan­ken die Stra­ßen­bahn anfangs hervor­ge­rollt ist (nicht anders als das Wasser floss aus dem Wasser­schloss in Fried­richs­ha­gen): tech­nisch Moderne, ästhe­tisch Bilder­buch, das Neue tapfer versteckt hinter dem Nach­ge­mach­ten, das Wirk­li­che hinter dem Vorgeb­li­chen, das nun aber längst seine eigene Geschichte hat und sich nicht mehr darauf befra­gen lassen muss, was es einmal war. So ist auch dieses Stra­ßen­bahn­de­pot nur einfach schön.

Es beginnt zu regnen. Wir müssen zurück. Bevor wir Köpe­nick verlas­sen, gestat­ten wir uns im Eiscafé Lampe im Forum einen exoti­schen Traum aus Hawaii. “Nimm das mal!”, sagt meine Lebens­freun­din, “damit du weißt, wie Mango schmeckt.” Dann probiert sie von der Ananas, die nach beiden Seiten den Teller über­ragt. “Die ham verges­sen, die Mitte raus­zu­schnei­den. Die Mitte gehört immer raus­ge­schnit­ten.”

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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