Zurückhaltende Erholung

Berlin ist keine Stadt der Schlös­ser. Die Berli­ner Schlös­ser gibt es sozu­sa­gen trotz­dem. Auch das weit­hin bekannte, touris­tisch erst­klas­sige Schloss Char­lot­ten­burg ist daher eigent­lich kein Spazier­gangs­ziel für den, der die Eigen­ar­ten Berlins erken­nen, Berlin lernen will. Berlin habe über­haupt keine Physio­gno­mie, keine unter­schei­dende Eigen­art, meinte Maxi­mi­lian Harden 1901, Germaine de Stael hatte es fast 100 Jahre früher ganz ähnlich auch so gesagt. Aber es ist falsch. Es ist gerade deshalb falsch, weil die Eigen­ar­ten Berlins beson­ders eigen­ar­tig sind. Ja selbst ein Schloss — aber ich glaube wirk­lich nur das Char­lot­ten­bur­ger — kann unter solchen Gesichts­punk­ten berlin­ei­gen­ar­tig genannt werden. Als Museum ist es gleich­gül­tig. Die meis­ten Schlös­ser in den meis­ten Städ­ten mit Schlös­sern sind Museen, eigene Welten, wie Kran­ken­häu­ser, Hoch­schu­len. Das ist das Char­lot­ten­bur­ger Schloss auch. Deshalb braucht man nicht hinzu­ge­hen oder eben nur dann, wenn man an Träu­men von gestern mehr inter­es­siert ist als an der Stadt von heute und ihren Stadt-Teilen.

Die Erbaue­rin des Schlos­ses Char­lot­ten­burg ist Marga­rete Kühn.
“Wer?”, fragt erstaunt meine Schwes­ter aus Bad Schwar­tau, die mich beglei­tet, weil ich schwach auf den Füßen bin, “ich denke Sophie Char­lotte aus Hanno­ver, die mit Leib­niz befreun­det war und nach der Char­lot­ten­burg Char­lot­ten­burg heißt?” Meinet­we­gen, das kann man auch sagen. 100 Jahre, von 1695 an, ist an diesem Schloss gebaut, 1943 ist es fast gänz­lich zerstört worden. “Sieht aus wie die preu­ßi­schen Gefäng­nisse, in denen wir gelit­ten haben”, soll einer im ZK der SED gesagt haben, und darauf­hin sind Bauaka­de­mie und Stadt­schloss abge­ris­sen worden: weg mit den monar­chis­ti­schen Resten. Das war 1950; Deutsch­land schon getrennt, der Osten reißt ab, der Westen erhält: so sicher war das anfangs gar nicht. Wie man das Stadt­schloss hätte restau­rie­ren, hätte man das Schloss Char­lot­ten­burg abrei­ßen können.

Aber jetzt ging es plötz­lich um Gegen­sätze, und es gab eben Marga­rete Kühn, die einzige Wissen­schaft­le­rin, die sich um das Char­lot­ten­bur­ger Schloss kümmerte. Das Schloss Char­lot­ten­burg ist kein Hohen­zol­lern­schloss, über­haupt kein Königs­schloss, sondern ein Ernst-Reuter-Schloss, es stammt aus dem “Völker der Welt, schaut auf diese Stadt”. Es ist ein West­ber­li­ner Schloss, jetzt ist West­ber­lin vorbei, jetzt beginnt auch das Schloss wieder zu verfal­len (sagt Börsch-Supan, der beste Kenner des Gebäu­des).
Als es zum ersten Mal fertig war, umfasste die Front des Schlos­ses 44 Meter, jetzt ist es über ein halber Kilo­me­ter. Während die Kurfürs­tin Sophie Char­lotte, deren geist­rei­chen Kopf die Enthu­si­as­ten loben, hier baute, ließ der Kurfürst seine Regi­men­ter gegen die Türken und Fran­zo­sen an einem euro­päi­schen Zwei-Fron­ten-Krieg teil­neh­men, um schließ­lich König zu werden. Er liebte die Pracht, die Verschwen­dung und rich­tete die Staats­fi­nan­zen zu Grunde. Die Lust­yacht, mit der er über die Spree kreuzte und viel­leicht auch nach Char­lot­ten­burg fuhr, hieß Libur­nica. Beliebt waren vor allem Leute, die die Eitel­keit des Monar­chen deko­rier­ten. Eosan­der, der — mit unkla­rer Herkunft, wie es heißt — aus Schwe­den kam und sich deshalb auch “Gothe” nannte, verdrängte den großen Schlü­ter, aber er setzte dem Schloss die teure Kuppel auf, insze­nierte die Krönung des Kurfürs­ten zum “König in Preu­ßen” in Königs­berg; später heira­tete er die Toch­ter des berühm­ten Merian in Frank­furt und rich­tete binnen kurzem den soli­den Verlag zu Grunde, um Gene­ral­leut­nant in Sach­sen zu werden und mit einer “Kriegs­schule” als Mili­tär­theo­re­ti­ker hervor­zu­tre­ten. Nichts von soli­dem Preu­ßen­tum also, sondern Talmi und Thea­ter. Fried­rich Wilhelm II., der Sohn der gerühm­ten Sophie Char­lotte, hasste Char­lot­ten­burg und ließ den Park verwil­dern.

Ich komme gegen­über dem Klau­sen­er­platz, wo der 210er und der 145er halten, neben dem Lang­hans­bau — wie gesagt: am Arm meiner Schwes­ter — herein in den Garten. Es ist Sonn­tag Mittag. Viel Volk. Die Menschen spazie­ren lang­sa­mer und schnel­ler, sitzen unter Olean­der und Hibis­kus auf den gegen­ein­an­der gestell­ten grünen Bänken, beschäf­ti­gen ihre Kinder oder spre­chen über die Welt. “Nach­dem sie soviel Geld für die Bomben auf den Kosovo hatten, hätten sie nach dem Erdbe­ben ruhig den Türken etwas mehr über­wei­sen können”, sagt der junge Mann in meinem Rücken zu seiner schö­nen Freun­din; ich kann nicht hören, dass sie ihm etwas antwor­tet; wahr­schein­lich nickt sie oder sagt leise “hm”. Die Stim­mung ist fried­lich, ruhig, gesetzt. Der Schloss­gar­ten wirkt sehr demo­kra­tisch. Am besten ist er geeig­net, schreibt der muse­ums­päd­ago­gi­sche Dienst, zur “zurück­hal­ten­den Erho­lung”. In diesem Lande könnte man den Eindruck haben, ist alles so, wie es sein soll. “Königs­weg” ist hier durch­aus kein passen­der Name mehr. Wahr­schein­lich heißt der “Königs­weg im west­li­chen Boskett” auch nur bei den Muse­ums­leu­ten so. Für die ande­ren ist es einfach der Weg, der Acht­eck, Vier­eck und Rondell, kleine Hecken­plätze, mitein­an­der verbin­det und zu der Sumpf­zy­presse führt, die hier seit Ende des 18. Jahr­hun­derts steht. Die Spray­zei­chen auf dem Sockel der Minerva inmit­ten der Rondells sind unori­gi­nell und müss­ten also mit der Gesamt­erschei­nung analy­siert werden, ehe man sie einfach Schmie­re­reien nennt. Meine Schwes­ter, der es in meiner schwei­gen­den und beob­ach­ten­den Gegen­wart viel­leicht lang­wei­lig wird, beginnt in einem Taschen­buch zu lesen, es ist das italie­ni­sche Tage­buch von Fanny Mendels­sohn; die Minerva-Statue, die wir betrach­ten, steht hier fast genauso lange, wie Fanny und Felix Mendels­sohn tot sind. Hier kommen jetzt nur wenige Menschen vorüber; die Stadt ist nur durch die Notsi­gnale von Notfahr­zeu­gen zu hören. In der Stadt ist immer jemand in Not. Das ist ihre Norma­li­tät. Als das Schloss begann, gab es hier nur das kleine Dorf Liet­zow. Am Anfang des 18. Jahr­hun­derts fing um das Schloss die Sied­lung Char­lot­ten­burg an. 1871, am Ende des deutsch-fran­zö­si­schen Krie­ges, hatte sie wenig mehr als 19.000 Einwoh­ner, 1914, am Beginn des 1. Welt­krie­ges, waren es 320.000. Char­lot­ten­burg ist bei weitem dieje­nige deut­sche Stadt mit dem drama­tischs­ten Bevöl­ke­rungs­wachs­tum; Spit­zen­wert 1870 bis 1910: fast 1100 Prozent Bevöl­ke­rungs­zu­nahme. Dahin­ter steht Berlin weit zurück. Aber Char­lot­ten­burg ist Berlin, recht­lich seit 1920.

Die Sommer­re­si­denz mit dem Sommer­gar­ten, in dem die verges­se­nen Köni­gin­nen und Könige im Mauso­leum, einem Gebäude aus dem Disney­land der Geschichte, ruhen, ist zwischen der Trasse der S4 und der Spree längst ein Stadt­teil, unter dem sich, was man so Geschichte nennt, zum Verges­sen zusam­men­ge­zo­gen hat. Leib­niz, sagt man, der den mensch­li­chen Verstand bedachte, war ein Freund von Sophie Char­lotte, der Kurfürs­tin und späte­ren Köni­gin aus Hanno­ver (aber wie ist es mit der Metro­po­li­tät von Hanno­ver bestellt?), oft hier zu Gast, an der Spree zwischen Berlin und Pots­dam. “Das Zukünf­tige”, sagte er, “und Vernunft­über­le­gun­gen machen selten soviel Eindruck wie das Gegen­wär­tige und die Sinne. Man singt dies, man lobt das. Man spricht es aus, man hört es. Man schreibt dies, man liest das, und kümmert sich nicht mehr um das Gele­sene.”

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