Gegliederte Landschaften

Ich lerne. Ich bereite vor. Ich übe mich.
(…) Eine besonnte, eine äußerst geglie­derte, eine geschlif­fene Land­schaft schwebt mir vor, eine Insel glück­se­li­ger Mensch­heit.
(…) Para­dies setzt ein.
- Lasst uns die Schlag­wet­ter-Atmo­sphäre verbrei­ten! — Lernt! Vorbe­rei­tet! Übt Euch.
Wäre das ein Anfang? Das Gedicht, aus dem ich diese Verse zitiere, ist von Johan­nes R. Becher. Als er es schrieb, war er 23 Jahre alt, als es in der exem­pla­ri­schen Antho­lo­gie “Die Lyrik des expres­sio­nis­ti­schen Jahr­zehnts” erschien, war er Kultur­mi­nis­ter der DDR. Aber das sagt uns eigent­lich gar nichts. Es ist nur eine Gedan­ken-Asso­zia­tion. Sie stellt sich bei mir ein, als ich von der S‑Bahn-Station Frank­fur­ter Allee die baustel­len­ver­stellte Möllen­dorff­straße aufwärts schlen­dere, auf die Deutsch­meis­ter­straße zu; ich möchte dort ein Haus besich­ti­gen, von dem es in den Büchern heißt, es zeige nach Ende der schöp­fe­ri­schen Phase des Expres­sio­nis­mus Formen-Rudi­mente dieses Stils. Aber niemand, entnehme ich den Büchern, weiß so recht, was Expres­sio­nis­mus ist, viel­mehr: was er war. Und Lyrik und Archi­tek­tur unter einem Stil­be­griff zu verbin­den, das ist wohl ohne­hin eine ziem­lich theo­re­ti­sche Übung. Aber: “geschlif­fene Land­schaft”, “Schlag­wet­ter-Atmo­sphäre” und “Para­dies setzt ein”, das sind doch Worte! Wenn man sie einmal gehört hat, behält man sie eine Weile.

Unter­des­sen habe ich die Deutsch­meis­ter­straße, die ihren ostmis­sio­na­ri­schen Namen unan­ge­foch­ten seit 1912 trägt, erreicht. In einem elegan­ten Bogen folgt sie — leicht nach Nord­wes­ten anstei­gend — der geschwun­ge­nen orange-grün verputz­ten, geschlos­se­nen Südfas­sade, bis sie mit der Straße An der Park­aue, die — eben­falls leicht stei­gend — nach Norden verläuft, einen klei­nen stil­len Platz bildet. In diesen Platz ragt von Nord­wes­ten her ein drei­eckig geschnit­te­nes Grund­stück vor, das der, einen offe­nen, nach Norden gele­ge­nen Hof umschlie­ßende, zwei­schenk­lige Bau einnimmt, der mich bis hier­her verführt hat, an den Expres­sio­nis­mus zu denken.

Das mit konka­ven und konve­xen Formen in Klin­ker­stei­nen und mit grünen Putz­flä­chen den Platz gestal­tende Gebäude der AOK ist aus dem Jahre 1927. Es steht für mein Stadt­ge­fühl am Beginn eines Stadt-Drei­ecks, das zwischen S‑Bahn-Trasse und Möllen­dorff­straße aufwärts durch die Zeiten verläuft und bis zum Ende der Paul-Junius-Straße eine Zeiten­folge knapp zusam­men­fasst, die man nicht über­all — wollen wir sagen: — so unver­dünnt vor Augen hat. Es ist von hier aus, von diesem End-Zwan­zi­ger-Ensem­ble durch Park­aue und Am Stadt­park, am Haus der Kinder und Carrou­sel Thea­ter vorbei, ein paar Stufen aufwärts, durch den Stadt­park viel­leicht ein Vier­tel­stünd­chen (oder etwas länger, weil man im Park viel­leicht auf einer Bank eine Zeit lang sitzt und sich wieder einmal wundert, dass man diese Ruhe gratis bekommt mitten im beweg­ten Berlin) bis zu dem Gebäude-Ensem­ble an der Schef­fel­straße, zwischen Paul-Junius- und Eber­hard­straße, das mit seiner zwischen Klin­ker­bän­dern hoch­ra­gen­den weißen Eckbe­bau­ung auf den ersten Blick erstaunt und das flüch­tige Stich­wort Expres­sio­nis­mus wieder belebt. Bauherr: Berli­ner Bauge­nos­sen­schaft, Archi­tekt Hans Kraffert, Schef­fel­straße Nr. 16, finan­ziert aus öffent­li­chen Mitteln der Haus­zins­steuer; ein Beispiel; gebaut auch 1927. Die enden­den 20er Jahre: der Ploetz charak­te­ri­siert sie als “Konso­li­die­rung”, die senzahl ist hoch, die wirt­schaft­li­che Konzen­tra­tion “verschärft” sich, der Stin­nes-Konzern bricht zusam­men (mit fast 3000 Einzel­fir­men), Ebert stirbt, Hinden­burg wird Reichs­prä­si­dent, die Reichs­kanz­ler heißen Luther, Marx, die SPD tole­riert oder tole­riert nicht, seit Juli 1928 regiert sie wieder ein biss­chen, in Preu­ßen regiert sie sowieso. Der Luisen­städ­ti­sche Kanal wird zuge­schüt­tet: eine Arbeits­be­schaf­fungs­maß­nahme, wie 1848 bis 1852 seine Errich­tung eine Arbeits­be­schaf­fungs­maß­nahme war. Karstadt beginnt sein großes Kauf­haus am Hermann­platz zu bauen, Euro­pas größte Drucke­rei in Tempel­hof wird fertig, in Berlin erschei­nen 147 Zeitun­gen und fast 2.500 Zeit­schrif­ten; der Funk­turm wird voll­endet und das Groß­kraft­werk Rummels­burg, die Elek­tri­fi­zie­rung Berlins ist mühsam, weni­ger als die Hälfte der Berli­ner Haus­halte haben Strom. Berlin ist nach Eröff­nung des drit­ten Beckens des West­ha­fens der zweit­größte Binnen­ha­fen Deutsch­lands: 43.000 Schiffe jähr­lich. Joseph Goeb­bels kommt als NSDAP-Gaulei­ter nach Berlin, von Mai 1927 bis März 1928 ist die Nazi­par­tei verbo­ten; am Nollen­dorf­platz spielt die Pisca­tor-Bühne Ernst Tollers “Hoppla, wir leben”.

Von dem Kraffert-Bau, Schef­fel-/Junius-Straße — das ist der Clou dieses Stadt­spa­zier­gangs und das ist das Typi­sche dieses Stadt­drei­ecks — sind es nun nur ein paar weitere Minu­ten, bis die selbe Paul-Junius-Straße, an der wir mitten in der Weima­rer Repu­blik waren, zwischen den hohen weißen, fast möchte man sagen: glän­zen­den, Viel­stö­ckern verläuft, mit denen sich das viel­be­spro­chene, geschmähte, aber doch eher zu rühmende Stadt­quar­tier “Am Fennpfuhl” mit seinen beweg­ten Innen­hö­fen bis hier herun­ter erstreckt, 1972 ff — in der Tradi­tion (ja, ja!) von Gropi­us­stadt und Märki­schem Vier­tel, nur viel zentra­ler, mittel­punk­ti­ger: das neue Berlin. In den Büchern steht, was der Spazier­gän­ger hier in einer halben Stunde zusam­men hat, auf weit ausein­an­der liegen­den Blät­tern. Die Wirk­lich­keit ist nicht chro­no­lo­gisch. Die Paul-Junius-Straße führt gerade an die Stelle, wo die große Nord-Süd-Magis­trale ihren Namen wech­selt: Möllen­dorff­straße in Weißen­seer Weg; wenn die dicke Baustelle hier ihr Ergeb­nis gehabt hat, sind es wenige Tram­sta­tio­nen bis zur S‑Bahn-Station Frank­fur­ter Allee oder zur Lands­ber­ger Allee, wo man die S‑Bahn erreicht, mit der man schnell über­all ist. Berlin bietet jeden­falls dichte, schnelle Land­schaf­ten, geglie­derte auch, meinet­we­gen geschlif­fene, para­die­si­sche viel­leicht selte­ner.

 

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