Eine kleine Weihnachtsgeschichte

Da war Erwin (Name geän­dert). Als er mich erblickte, blieb er erst stehen und kam dann auf mich zu. Wir grüß­ten uns freund­lich, fast so, als ob wir uns bereits kennen würden. Wir spra­chen über das bevor­ste­hende Weih­nachts­fest, wofür wir uns hier vorbe­rei­te­ten — bei ALDI.

In der letz­ten Zeit spre­chen mich regel­mä­ßig ältere Menschen an. Manche berich­ten mir von ihren Proble­men oder gleich von ihrem ganzen Leben. Dass sie nach sechs Jahren noch immer nicht hinweg­ge­kom­men sind über den Verlust des Ehemanns und sie nun einsam sind. Oder dass ihre Rente nicht ausreicht. Es scheint jedes Mal wie ein Tref­fen von Bedürf­ti­gen zu sein, von Menschen, denen die mensch­li­chen Bezie­hun­gen abhan­den gekom­men sind. Der Super­markt als Treff­punkt und Thera­pie­ort, sozu­sa­gen. Warum gerade ich so oft als Zuhö­rer auser­ko­ren werde, weiß ich nicht. Viel­leicht liegt es an meinem offe­nen oder inter­es­sier­ten Blick. Oder an meinem eige­nen Bedürf­nis, jede Chance auf Kontakte mit Menschen zu nutzen, in einer Welt voller Kälte und Anony­mi­tät. So, als würden wir uns erken­nen. Erken­nen als Menschen vom alten Schlag mit dem alten Hunger auf Menschen.

Sie glau­ben gar nicht, was ich in meinem Leben alles im Super­markt erlebt und wen ich dort so alles kennen­ge­lernt habe. Dieser Ort war schon immer ein gutes, jedoch unter­schätz­tes Revier für Bekannt­schaf­ten. Heute jedoch für mich in umge­kehr­ten Sinn. Heute kommen die Menschen gerne auf mich zu. Leider auch die vergif­te­ten, indus­tri­el­len Lebens­mit­tel. Versu­chen Sie mal im Super­markt einzu­kau­fen ohne Zucker oder Konser­vie­rungs­stoffe im Korb zu haben. Da bleibt wohl nur die Obst- und Gemü­se­ab­tei­lung (Scherz).

So also auch Erwin. Wir rede­ten über das schlechte Wetter und dass er aber trotz­dem mit Fahr­rad hier­her gekom­men sei. Es führe zwar die neue Stra­ßen­bahn von seiner Wohnung am Krimi­nal­ge­richt bis fast vor die Türe hier­her, aber auch schon gestern — beim Döner holen — war er mit dem Rad einfach schnel­ler und der Döner noch warm gewe­sen zu Hause.

Nur einige, wenige Ausnah­men haben in Lauf der Jahre Anstoß an meinen/unseren ausführ­li­chen Gesprä­chen genom­men. Einige mein­ten, sie müss­ten auf uns herab schauen oder uns verbal aus dem Weg räumen. Andere mein­ten, ihren Kindern erklä­ren zu müssen, dass wir merk­wür­dige Menschen seien, die „mit jedem quat­schen“ müssen. So als wäre wir nur noch lästi­ger Ausschuss, während sie selbst doch als vorbild­li­che Bürger und Konsu­men­ten  mit dem 5.000 € Trans­port­fahr­rad oder dem 50.000 € SUV in ihrer besse­ren Welt herum­fah­ren und nur über aussuchte und nütz­li­che Kontakte verfü­gen. Erken­nen Sie sich wieder? Schade. Denn so entge­hen Ihnen das echte Leben von Berlin und jede Menge ehrli­che Zuwen­dung.

Erwin ist 83 Jahre alt und genau hier aufge­wach­sen. Er hat früher Fußball gespielt und hat es sogar bis in die 4. Liga geschafft. Eine Bundes­liga gab es damals noch nicht. Geld gab es dafür auch noch nicht oder nur wenig. Dafür ein warmes Essen nach dem Spiel. Er bezeich­nete sich als Stra­ßen­fuß­bal­ler, hat den Sport auf der Stra­ßen mit den Kumpels zwischen den Ruinen von Moabit gelernt.

Heute hat ihm seine Frau wieder ihren spezi­el­len Einkaufs­zet­tel mitge­ge­ben, damit er wirk­lich das Rich­tige und nichts Unnüt­zes einkauft. Dosen­fut­ter. Das muss Liebe sein. Und wo erlebt man heute noch solche eiserne Liebe und diese Offen­heit am besten? Auch auf einem Abstiegs­platz bei 1. FC Union oder eben im Super­markt.

Wir und die Liebe werden niemals unter­ge­hen!

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