
Die Weimarer Republik scheiterte am Unvermögen der demokratischen Parteien, die Probleme des Landes zu lösen. Das muss Konsequenzen für die neue Bundesregierung haben.
Der spanisch-amerikanische Philosoph George Santayana hat einmal gemahnt: „Wer sich seiner Vergangenheit nicht erinnert, ist verdammt, sie zu wiederholen.“ Dass diese Feststellung mehr als nur einen Funken Wahrheit in sich trägt, wird niemand bestreiten können, der einen Blick auf die gerade abgewählte Ampelregierung wirft – und einen auf das, was in den kommenden Jahren geschehen könnte, wenn sich die politisch Verantwortlichen nicht an das erinnern, was sich in Deutschland zwischen 1928 und 1932 auf der politischen Bühne abspielte. Es war ein erschreckendes politisches Versagen der demokratischen Parteien, die eine dramatische Schwächung der Demokratie und zuletzt die Machtübernahme Adolf Hitlers zur Folge hatte.
Der erste Teil einer Rückblende in die Jahre 1928 bis 1930 liest sich fast wie eine Schablone der Ereignisse, die Deutschland in der jüngeren Zeit erlebt hat. 1928 hatte sich nach der Reichstagswahl ein „Große Koalition“ genanntes Regierungsbündnis aus vier Parteien zusammengefunden.
Börsencrash in den USA
Unter der Leitung des SPD-Reichskanzlers Hermann Müller bemühten sich das katholische Zentrum (ganz grob vergleichbar mit der heutigen CDU), die linksliberale DDP, die rechtsliberale DVP sowie die SPD knapp zwei Jahre darum, eine gemeinsame Linie zu finden – im Prinzip also eine konservativ-liberal-sozialdemokratische Koalition. Doch während sie außenpolitisch durchaus Erfolge erzielen konnte, waren die vier Parteien in der Wirtschafts- und Sozialpolitik von Anfang an heillos zerstritten und zu Kompromissen unfähig. Weder die wirtschaftsnahe DVP noch die Arbeiterpartei SPD konnten oder wollten sich aus dem Griff der hinter ihnen stehenden Lobbyorganisationen lösen und im Sinne einer Bewältigung der gravierenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme über ihren eigenen Schatten springen.
Als die Arbeitslosigkeit infolge des Börsencrashs in den USA am „Schwarzen Freitag“, dem 25. Oktober 1929, hochschnellte und die staatliche Arbeitslosenversicherung in eine extreme finanzielle Schieflage geriet, waren die Sozialdemokraten nicht bereit, der Erhöhung der Beiträge um 0,5 Prozentpunkte zuzustimmen. Und weil sich auch die DVP nicht zu Zugeständnissen in der Lage sah, trat Müller am 27. März 1930 zurück. Es gab vor knapp 100 Jahren einen großen Unterschied zur heutigen Situation: Der Reichspräsident hatte eine ungleich stärkere Stellung als der heutige Bundespräsident. Er konnte sogar gemäß Artikel 48 der Reichsverfassung mit sogenannten Notverordnungen entscheidend in die Politik eingreifen und das Parlament ausschalten. Und der monarchistisch gesinnte Amtsinhaber Paul von Hindenburg sollte davon in den nächsten knapp drei Jahren ausgiebig Gebrauch machen. Später stellte sich heraus, dass Müllers Große Koalition die letzte parlamentarisch-demokratische Regierung der Weimarer Republik war.
Was nach dem Ende der Großen Koalition folgte, sollte eine Mahnung für die heutigen demokratischen Parteien sein, denn die Entwicklung ab Ende März 1930 zeigt ziemlich genau, was passiert, wenn sie nicht bereit und fähig sind, die Probleme, die den Menschen auf den Nägeln brennen, zu lösen.
Auf Müller folgte als Reichskanzler der bisherige Fraktionsvorsitzende der gemäßigt konservativen Zentrumspartei, Heinrich Brüning. Er bildete eine neue, stärker konservativ ausgerichtete Regierung. Brüning hatte damals so wie heute Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz zwei überragende Ziele: Er wollte den aus den Fugen geratenen Reichshaushalt wieder stabilisieren und die kriselnde Wirtschaft stärken. Und wie Merz sah er sich einem gravierenden Problem gegenüber: den explodierenden Kosten für den Sozialstaat. Die Weimarer Republik war mit den Kosten für die Sozialpolitik ähnlich überfordert wie die Bundesrepublik heute. Und ein Ende der Steigerungen war ohne ein konsequentes Gegensteuern nicht abzusehen. Brünings Politik stand unter einem rigorosen Zwang zum Sparen.
Doch es zeigte sich, dass die Parteien 1930 aus dem Scheitern der Regierung nichts gelernt hatten. Sie machten weiter wie bisher: Statt Lösungen zu finden, stritten sie sich und stellten ihre eigenen Klientel-Interessen nicht selten über die des Landes. Viele Deutsche beobachteten das zunehmend fassungslos. Die SPD wehrte sich gegen Brünings rigorose Deflationspolitik, die Historiker heute als kontraproduktiv werten. Die Fronten waren vollkommen verhärtet, Kompromisse schienen unmöglich. So bat der Reichskanzler den Reichspräsidenten schließlich um die Auflösung des Reichstages. Hindenburg setzte für den 14. September 1930 Neuwahlen an.
Dieser Tag sollte in die Geschichte Deutschlands eingehen. Denn die Wahl war ein Geschenk für eine politische Kraft, die bisher noch keine Rolle gespielt hatte: die Nationalsozialisten. Unter ihrem „Führer“ Adolf Hitler konnte sie nun, angesichts der Krise, erstmals ihre Schlagkraft unter Beweis stellen. Nach einem kurzen, heftigen Wahlkampf war die Sensation perfekt: Die NSDAP hatte ihren Anteil an den Wählerstimmen von 2,6 auf 18,3 Prozent gesteigert und war schlagartig nach der SPD zur zweitstärksten Kraft im Reichstag geworden.
Vor allem die liberalen Parteien erlitten dramatische Verluste und wurden bald völlig aufgerieben. Sie hatten gegen die vereinfachenden populistischen Parolen der NSDAP, aber ebenso der KPD, keine Chance bei dem Versuch, komplexe sachliche Themen zu erklären. Die SPD hatte sich im Wahlkampf in erster Linie auf die Verteidigung der Demokratie verlegt, was vielen ihrer bisherigen Wähler schlicht zu wenig war. Für die populistische KPD waren alle anderen Parteien „faschistisch“, das aber trug zu einer Verharmlosung der wahren Faschisten bei.
Als Hauptgrund für das Wahlergebnis erkannten schon die Zeitgenossen die große Unzufriedenheit der Wähler mit der offenkundigen Unfähigkeit der demokratischen Parteien der Mitte, die wirtschaftlichen und sozialen Probleme zu lösen. Man sprach von einer „Panik des Mittelstandes“, also der Angst vor dem sozialen Absturz. Immer mehr Angehörige dieses Mittelstandes wählten die NSDAP, die immer erfolgreicher im (klein)bürgerlichen Lager auf Stimmenfang ging.
Brüning, dessen Zentrumspartei in etwa ihr Ergebnis gehalten hatte, blieb Reichskanzler. Dabei stützte er sich jetzt nicht mehr auf die politische Mehrheit im Parlament, sondern auf den Reichspräsidenten, der seine Politik mit Notverordnungen durchsetzte. Das entsprach insgeheim Brünings Wunsch, denn er hatte die parteipolitischen Streitigkeiten satt und wollte lieber unabhängig von den Parteien regieren – ein schlimmer strategischer Fehler, denn die Hoffnung, auf diese Weise durchregieren zu können und die Lage in Deutschland zu verbessern, erfüllte sich nicht. Stattdessen stärkte diese Politik letztlich die Rechtsextremen.
Die Sozialdemokraten standen ihm in Kurzsichtigkeit in nichts nach, denn sie verweigerten eine neue Regierungsbeteiligung. Dann mussten sie Brüning aber aus staatspolitischer Räson immer wieder unterstützen und halfen ihm so, seine Politik durch den Reichstag zu bringen, ohne darauf irgendeinen Einfluss zu haben. Zum Frust ihrer Wähler.
Unterdessen versank Deutschland in der tiefsten Krise seiner Geschichte, Millionen Menschen waren arbeitslos – und das bedeutete damals, ernsthaft in seiner Existenz bedroht zu sein. Doch Brüning blieb bei seiner rigorosen Sparpolitik. Die explodierenden Sozialausgaben zogen zwangsläufig eine drastische Reduzierung der Sachausgaben nach sich. Der Staat investierte nicht mehr.
Durch die sich stetig verschlimmernde Krise schwand die Anhängerschaft der Parteien der Mitte, die keine Mittel dagegen fanden, immer weiter. Währenddessen sammelten die politischen Ränder, also die KPD und vor allem die NSDAP die Unzufriedenen, zunehmend Wütenden ein. Die Gesellschaft spaltete sich immer tiefer, der Ton wurde aggressiver. Die Nazis gewannen immer mehr Landtagswahlen. Die Warnungen der Geheimdienste der Länder, dass die Partei die Demokratie abschaffen wolle, fruchteten nicht; viele Wähler wollten ja genau das oder es war ihnen egal, weil sie einfach Protest wählen wollten. Vor allem für die Jugend wurde die NSDAP nun immer attraktiver.
NSDAP bei 37,4 Prozent
Schließlich war die Situation dermaßen verfahren, dass Brüning zurücktrat. Am 31. Juli 1932 kam es zu Neuwahlen. Das Ergebnis war aus Sicht der Demokraten eine Katastrophe: Die NSDAP verdoppelte ihr Resultat auf 37,4 Prozent, die KPD kam auf 14,3 – zusammen hatten die beiden Parteien, die die Demokratie und die Verfassung ablehnten, erstmals eine Mehrheit.
Danach geriet die Weimarer Demokratie endgültig auf die schiefe Bahn. Die zweite Hälfte des Jahres 1932 versank im parteipolitischen Chaos; bei einer Wiederholungswahl im Dezember verloren die Nationalsozialisten zwar Stimmen, dennoch ernannte Reichspräsident Hindenburg Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler. Der Rest ist Geschichte.
An dieser Entwicklung trugen alle Parteien, die eigentlich auf dem Boden der Demokratie standen, eine gehörige Mitschuld. Sie waren nicht in der Lage, die zugegebenermaßen sehr großen Probleme zu lösen. Immer mehr Menschen suchten ihr Heil daher bei den radikalen Parteien, die populistisch und rein destruktiv auftraten und auf ihre Chance warteten.
Vor diesem Hintergrund hatte Friedrich Merz vor der Wahl am 23. Februar recht, wenn er meinte, dass die AfD beim nächsten Urnengang die stärkste Partei werde, wenn es in der neuen Legislaturperiode nicht zu einem radikalen Politikwechsel komme. Und was dann droht, zeigt die gerade beschriebene Entwicklung. Die Parallelen zur Endphase der dramatisch gescheiterten Weimarer Republik liegen auf der Hand. Niemand kann später sagen, er habe die Gefahr nicht erkannt. Daher möchte man den demokratischen Parteien laut zurufen: Reißt euch am Riemen! Schaut auf die Geschichte, sonst sind wir alle verdammt, sie zu wiederholen!
Armin Fuhrer, Journalist, Historiker und Autor mehrerer Bücher
Foto: Bundesarchiv, Bild 146‑1979-122–28A
Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0
[ Dieser Text erschien zuerst in der Berliner Zeitung und steht unter der Lizenz CC BY-NC-ND 4.0 ]
Schreibe den ersten Kommentar